Ein gutes Hotel kann man daran erkennen, dass einen der Zimmerservice nie direkt ansieht, wenn man ihn kommen lässt. Er blickte zu Boden, durch einen hindurch, an einem vorbei; man bleibt unsichtbar, selbst wenn man in Unterhosen dasteht oder nackt ist. Der Angestellte kommt ganz leise herein mit dem gebügelten Hemd oder dem Essen, der Zeitung oder dem Drink; man drückt ihm das Trinkgeld in die Hand, er murmelt ein leises Dankeschön, und schon ist er wieder weg. Es hat beinahe etwas Japanisches, wie sie einen nicht ansehen. Man hat das Gefühl, als wäre überhaupt niemand im Zimmer gewesen. Die Hotelangestellten haben so großen Respekt vor der Privatsphäre ihres Gastes, dass es schon unheimlich ist. Natürlich muss man das alles nachher bezahlen. Aber lassen Sie sich nie weismachen, dass es das nicht wert wäre. Ein Mensch, der sich am Rande eines psychotischen Zusammenbruchs befindet, könnte durch wenige Tage in einem First-Class-Hotel mit seinen Geschäften und seinem Rund-um-die-Uhr-Service vollständig wiederhergestellt werden, glauben Sie mir.
Langsam fragte ich mich, wieso ich mich tags zuvor überhaupt dermaßen aufgeregt hatte. Ich kam mir vor wie auf einer wohlverdienten Erholungsreise. Ich hätte mein Leben hier verbringen können, mit Essen im Speisesaal, Zeitunglesen, Shopping – bis mir das Geld ausging. Aber ich hatte hier etwas zu erledigen. Das ist das Harte daran: das Hotel zu verlassen und draußen diese windigen grauen Gehwege hinunterzudackeln. Man ist wieder in einer Welt, in der einem niemand die Tür aufhält; man steht an der Kreuzung neben Leuten, denen man nichts mehr voraus hat; man ist wieder nur ein ganz normales, leidendes Individuum, Beute für jede vorbeikommende Unbill. Es ist, als würde man noch einmal das Trauma seiner Geburt erleben, aber wenigstens kann man am Ende, wenn man seine Sachen erledigt hat, wieder zurück ins Hotel flitzen.
Und wenn man regen Gebrauch von dem Telefon in seinem Zimmer macht, kann man sich einige Ausflüge ersparen. Man erledigt möglichst viel auf diese Weise, ja man versucht sogar, die Leute dazu zu bringen, einen im Hotel aufzusuchen statt umgekehrt.
Diesmal jedoch ließen sich meine Angelegenheiten nicht im Hotel erledigen; ich versuchte es gar nicht erst. Ich schob es einfach so lange hinaus, wie es ging: Ich verbrachte den Rest des Tages auf meinem Zimmer, und als es dunkel wurde, ging ich hinunter zur Bar und dann in einen der Speisesäle, und danach spazierte ich durch die Läden und in die Lobby und noch einmal durch die Läden. Ich trieb mich herum, wo immer man sich herumtreiben konnte, ohne nach draußen in die kalte, fast schon kanadische Nacht treten zu müssen.
Und die ganze Zeit über hatte ich die .38er in der Innentasche meines Mantels.
Es war seltsam, hierherzukommen, um etwas Illegales zu tun. Vielleicht ließ sich das alles ja auch auf legale Weise erledigen, ließ sich durch die Lincoln ein Weg finden, Pris Barrows’ Händen zu entreißen. Aber auf einer tieferen Ebene genoss ich es, mit einer Waffe nach Seattle gekommen zu sein. Ich mochte das Gefühl, allein zu sein und niemanden zu kennen und mich bald mit Mr. Sam Barrows auseinanderzusetzen, ohne dass mir jemand half. Es war wie in einem alten Western. Ich war der Fremde in der Stadt, bewaffnet und mit einer Mission.
Ich ging zurück auf mein Zimmer, lag auf dem Bett, las Zeitung, sah fern, ließ mir um Mitternacht einen Kaffee kommen. Morgen früh spüre ich Barrows auf, sagte ich mir.
Dann – es war vielleicht halb eins und ich wollte gerade schlafen gehen – kam mir ein Gedanke: Warum nicht Barrows jetzt gleich anrufen? Ihn wecken. Ohne ihm zu sagen, wer ich bin, einfach nur: Ich krieg dich, Sam. Ihm richtig Angst einjagen, ihn wissen lassen, dass ich in der Stadt bin.
Raffiniert!
Ich hatte ein, zwei Drinks intus, oder waren es sechs oder sieben? Ich nahm den Hörer ab und sagte der Vermittlung des Hotels: »Geben Sie mir Sam K. Barrows. Die Nummer weiß ich nicht.«
Kurz darauf hörte ich Barrows’ Telefon klingeln und spielte im Kopf noch einmal durch, was ich sagen würde. Lassen Sie Pris wieder zu R & R Associates zurück, würde ich sagen. Ich hasse sie, aber sie gehört zu uns. Für uns ist sie das personifizierte Leben… Das Telefon klingelte und klingelte; offenbar war niemand zu Hause oder niemand mehr wach genug, um ranzugehen. Schließlich legte ich auf.
Was für eine dämliche Situation für einen erwachsenen Mann! Wie konnte jemand wie Pris für uns auf einmal das Leben an sich repräsentieren? Sind wir dermaßen verwirrt? Oder sagt das nicht eher etwas über das Leben aus als über uns? Es ist doch nicht unser Fehler, dass das Leben so ist. Wir haben uns das doch nicht ausgedacht. Oder etwa doch?
Und so weiter. Ich muss ein paar Stunden herumgetigert sein, ohne etwas anderes im Kopf zu haben als diese diffusen Grübeleien. Ich befand mich in einem schrecklichen Zustand. Es war wie eine Virusgrippe, aber eine, die den Stoffwechsel im Gehirn angreift und einen fast umbringt. So kam es mir jedenfalls vor. Ich hatte jeden Kontakt mit der Realität verloren, sogar mit der des Hotels; ich wusste nichts mehr vom Zimmerservice, von der Einkaufspassage, den Bars und den Speisesälen, ja ich blieb nicht einmal mehr am Fenster des Zimmers stehen, um mir die erleuchteten Straßenschluchten anzusehen. Es ist eine Art zu sterben, so den Kontakt zur Stadt zu verlieren.
Nach einer Weile – ich lief immer noch auf und ab – klingelte das Telefon.
Ich nahm ab. »Hallo.«
Es war nicht Sam Barrows. Es war Maury, der mich von Ontario aus anrief.
»Woher wusstest du, dass ich im Olympus bin?« Ich war völlig von den Socken; es war, als hätte er mich mithilfe irgendeiner magischen Fähigkeit aufgespürt.
»Ich wusste, dass du in Seattle bist. Und ich wusste, dass du das beste Hotel nehmen würdest. Ich wette, du hast dich in der Hochzeitssuite eingenistet und gerade irgendeine Frau bei dir.«
»Da muss ich dich enttäuschen. Ich bin hier, weil ich Sam Barrows umbringen will.«
»Umbringen? Mit was denn? Mit deinem Dickschädel? Willst du ihm damit so lange in die Magengrube hauen, bis er tot umfällt?«
Ich erzählte Maury von der .38er.
»Jetzt pass mal auf, Kumpel.« Seine Stimme war ganz ruhig. »Wenn du das tust, sind wir alle ruiniert.«
Ich erwiderte nichts.
»Dieser Anruf kostet uns ein Vermögen. Ich habe nicht vor, hier stundenlang auf dich einzureden wie ein Seelsorger. Schlaf dich aus und ruf mich morgen an, ja? Versprich mir das oder ich ruf die Polizei an und lass dich auf deinem Zimmer festnehmen, so wahr mir Gott helfe.«
»Gut, okay.«
»Du musst es versprechen.«
»Schon gut, Maury, ich verspreche dir, heute Abend nichts mehr zu unternehmen.« Wie konnte ich auch? Ich hatte es versucht und war bereits gescheitert; ich lief ja nur auf und ab.
»Na schön. Hör zu, Louis. Deswegen kommt Pris nicht zurück. Ich habe selbst auch schon daran gedacht. Aber es würde nur ihr Leben ruinieren, wenn du dorthin fährst und diesen Typen über den Haufen schießt. Lass dir das mal durch den Kopf gehen, dann kommst du zu demselben Schluss wie ich, glaub mir. Denkst du denn, ich würde es nicht selber machen, wenn ich davon überzeugt wäre, dass es etwas bringt?«
»Keine Ahnung.« Ich hatte Kopfschmerzen und war todmüde. »Ich möchte bloß noch ins Bett.«
»Ja, du kannst gleich schlafen. Aber vorher möchte ich, dass du dich mal im Zimmer umsiehst. Steht da irgendwo so ein Tischchen mit Schubladen? Ja? Schau in die obere Schublade. Jetzt gleich, während ich noch am Telefon bin. Schau da rein.«
»Wozu?«
»Da liegt eine Bibel drin.«
Ich knallte den Hörer auf die Gabel. Dieser Schweinepriester, dachte ich. Mir so einen Rat zu geben. Wäre ich bloß nicht nach Seattle gekommen. Ich war wie das Stanton-Simulacrum, wie eine Maschine, die sich durch eine Welt bewegte, die sie nicht verstand. Die Seattle nach einer Ecke absuchte, die ihr bekannt vorkam, wo sie ihre gewohnten Kunststückchen vorführen konnte. In Stantons Fall eine Kanzlei eröffnen. In meinem Fall – was? Irgendwie versuchen, wieder eine vertraute Umgebung herzustellen, so unangenehm sie auch sein mochte. Ich hatte mich an Pris und ihre Grausamkeit gewöhnt, ja, ich hatte mich sogar an die Begegnungen mit Sam K. Barrows und seinem Anwalt gewöhnt. Mein Instinkt trieb mich vom Unbekannten zum Bekannten zurück, es war die einzige Richtung, in der ich funktionierte.