Irgendwo in meinem Hinterkopf geisterte eine Anekdote herum, die von einer Jugendliebe Abraham Lincolns handelte. Einer unglücklichen Liebe. Lincoln und ich haben eine Menge gemeinsam, dachte ich. Die Frauen haben uns ganz schön zugesetzt. Also wird er Verständnis für das alles haben.
Was sollte ich tun, bis das Simulacrum eintraf? Im Motel bleiben war riskant… Ich entschied, in die Stadtbibliothek von Seattle zu gehen und Lincolns Frauengeschichten zu recherchieren. Ich sagte dem Motelbesitzer, wo ich war, falls jemand, der wie Abraham Lincoln aussah, nach mir fragte, dann rief ich ein Taxi und machte mich auf den Weg. Ich hatte ziemlich viel Zeit, es war erst zehn Uhr morgens.
Es gibt noch Hoffnung, sagte ich mir, während mich der Wagen zur Bibliothek brachte. Noch gebe ich nicht auf! Nicht, solange mir einer der größten Präsidenten der amerikanischen Geschichte und gleichzeitig ein erstklassiger Rechtsanwalt zur Seite steht.
Ja, wenn mir irgendjemand helfen konnte, dann Abraham Lincoln.
Was ich in der Bibliothek fand, machte mir allerdings nicht gerade Mut. Offenbar war Lincoln von seiner Jugendliebe abgewiesen worden, war darauf für mehrere Monate in tiefe Schwermut versunken und hätte fast Selbstmord begangen. Das Ereignis hatte für immer seelische Narben hinterlassen.
Na toll, dachte ich, als ich die Lexika zurück ins Regal stellte. Genau das, was ich brauche: einen noch größeren Versager als mich. Vielleicht bringen wir uns ja einfach zusammen um. Lesen uns ein paar alte Liebesbriefe vor und dann – bamm, mit der .38er.
Andererseits hatte er später Erfolg gehabt – er war Präsident der Vereinigten Staaten geworden. Das bedeutete, dass es irgendwie weiterging, auch wenn man den Schmerz natürlich nie ganz vergaß. Er macht einen zu einem melancholischen, nachdenklichen Menschen. Mir war diese Schwermut an Lincoln bereits aufgefallen. Vermutlich stand mir dieselbe Entwicklung bevor.
Aber das war noch Jahre hin – und ich musste über jetzt nachdenken.
Ich verließ die Bibliothek und spazierte durch die Straßen von Seattle, bis ich einen Buchladen fand, der Taschenbücher im Angebot hatte. Dort kaufte ich mir eine Ausgabe von Carl Sandburgs Lincoln-Biografie und ging damit zurück ins Motel, wo ich es mir mit einem Sixpack und einer großen Tüte Kartoffelchips gemütlich machte.
Ich nahm mir natürlich vor allem jene Abschnitte vor, in denen besagte junge Dame eine Rolle spielte: Ann Rutledge. Aber irgendwie stellte Sandburg das Ganze nur sehr verschwommen dar; er schien dem Thema auszuweichen. Also legte ich Buch, Bier und Chips wieder zur Seite und zurück in die Bibliothek. Es war inzwischen früher Nachmittag.
Die Geschichte mit Ann Rutledge… Nach ihrem Tod an Malaria im Jahre 1835 – im Alter von neunzehn Jahren – war Lincoln in etwas verfallen, was die Britannica »einen Zustand krankhafter Niedergeschlagenheit« nannte, »offensichtlich der Auslöser für Spekulationen, ob Lincoln eine Spur Wahnsinn in sich trug. Anscheinend hatte er vor diesem Aspekt seines Charakters selbst Angst – eine Angst, die sich mehrere Jahre später in dem rätselhaftesten Ereignis seines Lebens manifestierte.« Damit war ein Vorfall im Jahre 1841 gemeint.
Ein Jahr zuvor hatte Lincoln sich mit einer hübschen jungen Frau namens Mary Todd verlobt. Er war damals neunundzwanzig. Am 1. Januar 1841 sollte Hochzeit gefeiert werden. Die Braut trug ihr Kleid; alles war bereit. Nur Lincoln kam nicht. Freunde gingen nachsehen und fanden ihn in einem Zustand des Wahnsinns, ein Zustand, von dem er sich nur langsam erholte. Am 23. Januar schrieb er seinem Freund John T. Stuart:
Ich bin der unglücklichste Mensch der Welt. Wenn dieses mein Gefühl zu gleichen Teilen auf die gesamte Menschheitsfamilie verteilt würde, gäbe es kein fröhliches Gesicht mehr auf Erden. Ob es mir je wieder besser gehen wird, vermag ich nicht zu sagen; ich habe die entsetzliche Ahnung, dass mein Zustand sich nicht ändern wird. So zu bleiben, ist unmöglich – entweder muss es mir besser gehen oder ich muss sterben.
Und in einem vorangegangenen Brief an Stuart vom 20. Januar:
Ich habe mich in den letzten Tagen auf höchst diskreditierende Weise als Hypochonder aufgeführt und dadurch die Erkenntnis gewonnen, dass Dr. Henrys Gegenwart überlebensnotwendig für mich ist. Wenn er die Stellung nicht bekommt, wird er Springfield verlassen. Sie sehen also, wie sehr mir an dieser Angelegenheit liegt.
Die »Angelegenheit« war, dass Dr. Henry zum Postmeister von Springfield ernannt werden sollte, um Lincoln weiterhin zur Verfügung stehen zu können. Mit anderen Worten: Lincoln stand zu diesem Zeitpunkt seines Lebens am Rande des Selbstmords oder des Wahnsinns oder beidem zugleich.
Die Nachschlagewerke um mich ausgebreitet, kam ich zu dem Schluss, dass Lincoln das gewesen war, was man heute einen Manisch-Depressiven nennt. In der Britannica hieß es:
Sein ganzes Leben lang war ihm eine gewisse Distanziertheit eigen, die ihn zwar nicht zu einem Realisten machte, die aber so verschleiert durch augenscheinlichen Realismus war, dass achtlose Menschen sie nicht wahrnahmen. Ihn kümmerte allerdings auch nicht, ob man sie wahrnahm oder nicht; er ließ sich treiben, gestattete den Umständen großen Einfluss auf die Bestimmung seines Kurses und verfiel in Haarspaltereien, wie etwa ob seine Zuneigungen der konkreten Wahrnehmung von Seelenverwandtschaft entsprangen oder davon abhingen, inwieweit jemand seinen Träumen und Idealen entsprach.
Und bezüglich Ann Rutledge war zu lesen:
Hier offenbarten sich seine tiefe Sensibilität wie auch die Neigung zur unverhüllten emotionalen Reaktion und zur Schwermut, die bis zum Ende seiner Tage im Wechsel mit ausgelassener Heiterkeit kam und ging.
Später, in seinen politischen Reden, befleißigte er sich eines beißenden Spotts, ein Charakterzug, der sich, wie ich herausfand, auch in Manisch-Depressiven findet. Und ein Wechsel zwischen »ausgelassener Heiterkeit« und »Schwermut« ist geradezu die Definition des Manisch-Depressiven.
Die folgende Anmerkung jedoch stellte meine Diagnose infrage:
Zurückhaltung, die manchmal in Verschlossenheit ausartete, war einer seiner wesentlichen Charakterzüge.
Und:
… Seine Fähigkeit zu »großer, schöpferischer Untätigkeit«, wie Stevenson es nannte, war bemerkenswert.
Untätigkeit, Unentschlossenheit – das war kein Symptom der manisch-depressiven Psychose, sondern der introvertierten Psychose. Der Schizophrenie.
Es war jetzt halb sechs; mir taten die Augen weh, und ich hatte Hunger. Ich stellte die Nachschlagewerke weg, dankte der Bibliothekarin und machte mich in den kalten, windigen Straßen auf die Suche nach einem Restaurant.
Ich hatte Maury also gebeten, mir einen der vergrübeltsten, kompliziertesten Menschen in der Geschichte der USA zu schicken. Während ich zu Abend aß, ließ ich mir das durch den Kopf gehen. Lincoln war genau wie ich, ich hätte dort in der Bibliothek ebenso gut meine eigene Biografie lesen können. Auf psychologischer Ebene glichen wir uns wie ein Ei dem anderen, und wenn ich ihn verstand, verstand ich auch mich.
Und er war das Gegenteil von Pris, dem kalten, schizoiden Typ. Schmerz und Einfühlungsvermögen standen ihm ins Gesicht geschrieben. Er spürte die Leiden des Krieges mit jeder Faser, jeden einzelnen Toten.
Entsprechend schwer fiel es mir zu glauben, dass seine »Distanziertheit«, wie die Britannica es nannte, ein Anzeichen von Schizophrenie war. Das Gleiche galt für seine Unentschlossenheit. Außerdem hatte ich ja persönliche Erfahrung mit ihm – mit seinem Simulacrum, um genau zu sein. Und bei dem Simulacrum empfand ich nicht jene Fremdartigkeit, Andersartigkeit, die ich bei Pris wahrnahm.
Nein, ich empfand ein ganz selbstverständliches Vertrauen zu Lincoln, er war mir sympathisch, er hatte etwas von Natur aus Gutes, Warmes, Menschliches an sich: eine Verletzlichkeit. Und ich wusste aus meinem Umgang mit Pris, dass der Schizoide eben nicht verletzlich war; er war verschlossen, ließ nichts an sich heran, bis zu dem Punkt, wo er andere Menschen beobachten, mit ihnen auf quasi wissenschaftliche Weise umgehen konnte, ohne sich selbst in Gefahr zu bringen. Pris’ größte Angst, wurde mir klar, war die Angst vor Nähe. Und damit ging Misstrauen einher; sie neigte dazu, den Leuten Motive zu unterstellen, die sie in Wirklichkeit gar nicht hatten. Ja, das war es, was die beiden letztlich unterschied: Lincoln kannte die Widersprüchlichkeiten der menschlichen Seele, ihre großartigen Seiten und ihre schwachen, all die so merkwürdig geformten Teile, aus denen sie zusammengesetzt war. Pris dagegen besaß eine rigide, schematische Sicht der Menschen, eine Risszeichnung, eine Abstraktion. Und in der lebte sie. Kein Wunder, dass man nicht an sie herankam.