Barrows zuckte mit den Schultern.
Ich wandte mich dem Booth-Ding zu. »Zitieren Sie irgendwas von Shakespeare.«
Es grinste dümmlich.
»Dann irgendwas auf Latein.«
Es hörte gar nicht mehr auf zu grinsen.
»Wie lange hat es gedauert, ihn zusammenzuschrauben?«, fragte ich Barrows. »Einen halben Vormittag? Wo ist die Liebe zum Detail geblieben? Was ist aus der Handwerkskunst geworden? Der reine Pfusch – bis auf den eingebauten Killerinstinkt, stimmt’s?«
»Ich glaube, Mr. Rosen, Sie möchten Ihre Drohung, sich an Mrs. Devorac zu wenden, angesichts von Johnny Booth hier wieder zurückziehen.«
»Wie wird es vorgehen? Mit einem Giftring? Mit bakteriologischen Waffen?«
Blunk und Colleen Nild grinsten, und das Booth-Ding tat es ihnen gleich. Ganz wie ihr Boss es von ihnen verlangte. Sie waren alle Barrows’ Marionetten.
Pris starrte das Booth-Simulacrum unentwegt an. Sie reckte den Hals wie ein Huhn, ihre Augen waren voller Lichtsplitter. Plötzlich hob sie die Hand und zeigte auf die Lincoln. »Die habe ich gebaut.«
Barrows wandte sich Pris zu.
»Sie gehört mir. Wussten Sie das, Mr. President? Dass mein Vater und ich Sie gebaut haben?«
»Pris«, sagte ich, »um Himmels willen…«
»Sei still!«
»Nein, Pris, das hier geht nur Barrows und mich etwas an.« Meine Stimme zitterte. »Du meinst es bestimmt gut, und mir ist jetzt auch klar, dass du nichts mit dem Bau dieses Booth-Dings zu tun hast. Aber du…«
»Herrgott, nun halt schon den Mund.« Pris funkelte Barrows an. »Du hast Bob Bundy dieses Ding bauen lassen, um die Lincoln zu zerstören, und du hast dafür gesorgt, dass ich nichts mitbekomme. Du miese Ratte! Das werde ich dir nie verzeihen.«
Barrows runzelte die Stirn. »Was regst du dich denn so auf, Pris? Du willst mir doch nicht sagen, dass du eine Affäre mit dem Lincoln-Simulacrum hast.«
»Ich werde mir meine Arbeit nicht kaputt machen lassen.«
»Vielleicht doch.«
Die Lincoln wandte sich Pris zu. »Ich glaube, dass Mr. Rosen recht hat. Sie sollten ihm und Mr. Barrows gestatten, eine Lösung für ihre Streitigkeiten zu finden.«
»Ich habe schon eine.« Pris beugte sich nach unten, verschwand beinahe unter dem Tisch. Was hatte sie vor? Wir saßen wie erstarrt da. Schließlich kam sie wieder hoch, einen ihrer hochhackigen Schuhe in der Hand, den metallbeschlagenen Absatz nach vorn gerichtet. »Zum Teufel mit dir«, sagte sie zu Barrows.
Barrows hob die Hände. »Nicht.«
Der Schuh krachte gegen den Kopf des Booth-Simulacrums, gleich hinter dem Ohr. Pris’ Augen glänzten feucht, ihr Mund war ein schmaler, verzerrter Strich.
»Glob«, machte das Booth-Simulacrum. Seine Hände fuhren ruckartig in der Luft herum; seine Füße trampelten auf dem Boden. Dann zog es sich krampfhaft zusammen und erstarrte.
»Schlag es nicht noch mal, Pris.« Ich hatte das Gefühl, kein weiteres Mal ertragen zu können.
»Warum sollte ich?« Pris bückte sich und zog den Schuh wieder an. Die Leute an den Tischen um uns herum starrten verdutzt herüber.
Barrows wischte sich mit einem Taschentuch die Stirn ab. Er setzte zum Sprechen an, überlegte es sich dann anders, blieb still.
Langsam begann das Booth-Simulacrum von seinem Stuhl zu rutschen. Ich stand auf und versuchte es zu stützen. Blunk erhob sich ebenfalls, und gemeinsam konnten wir es so platzieren, dass es nicht mehr umfiel. Dann wandte sich Blunk den Leuten um uns herum zu. »Keine Panik, das ist nur eine Puppe, eine mechanische Puppe zu Demonstrationszwecken.« Er deutete auf das nun sichtbare Metall und Plastik im Inneren des Schädels. In dem Loch, das Pris geschlagen hatte, konnte ich etwas schimmern sehen, die beschädigte Zentralmonade vermutlich. Ich fragte mich, ob Bob Bundy sie wieder reparieren konnte. Aber interessierte mich das überhaupt?
Barrows drückte seine Zigarette aus, trank sein Glas leer und sagte mit heiserer Stimme zu Pris: »Damit hast du dir einen Feind gemacht, kleine Lady.«
»Leb wohl, Sam K. Barrows, du dreckige Schwuchtel.« Pris stand auf und warf dabei absichtlich ihren Stuhl um. Dann ging sie zwischen den Tischen hindurch zum Eingang, wo sie sich von der Garderobiere ihren Mantel geben ließ und verschwand.
Wir sahen ihr schweigend nach.
Nach einer Weile deutete Barrows seufzend auf das Booth-Ding. »Was mache ich jetzt damit? Wir müssen es hier irgendwie rausschaffen.« Er sah mich mit müdem Blick an. »Wir werden sie nie wiedersehen. Aber wer weiß, vielleicht steht sie auch draußen auf dem Gehsteig und wartet. Können Sie es sagen? Ich nicht – ich blicke bei ihr nicht durch.«
Ich sprang auf, lief zum Eingang und stürzte auf die Straße. Der uniformierte Türsteher nickte mir höflich zu.
Von Pris war nichts zu sehen.
»Wo ist die junge Frau hin, die gerade rausgekommen ist?«
Der Türsteher hob die Schultern. »Keine Ahnung, Sir.« Er deutete auf die zahllosen Leute, die wie Bienen um den Eingang des Lokals herumschwärmten. »Tut mir leid.«
Ich blickte den Bürgersteig hinauf und hinunter, rannte sogar ein Stück in jede Richtung, um sie noch irgendwo ausfindig zu machen. Aber nichts.
Schließlich ging ich wieder in das Lokal zurück. »Sie haben alles verloren«, sagte ich zu Barrows.
»Ich habe überhaupt nichts verloren.«
Blunk sah mich an. »Sam hat recht. Was hat er denn schon verloren? Bob Bundy kann jederzeit ein neues Simulacrum bauen.«
»Sie haben Pris verloren. Also alles.«
Barrows grinste. »Ach, wer kennt sich schon mit Pris aus? Wahrscheinlich nicht einmal sie selbst.«
»Mag sein.« Meine Zunge fühlte sich geschwollen an. Ich wackelte mit dem Kiefer, spürte keinen Schmerz, spürte überhaupt nichts. »Jedenfalls habe ich sie nicht mehr gefunden.«
»Offensichtlich. Aber denken Sie mal darüber nach – könnten Sie jeden Tag so eine Szene ertragen?«
»Nein.«
In diesem Moment betrat Earl Grant wieder die Bühne. Das Piano spielte, und er begann zu singen:
I’ve got grasshoppers in my pillow, baby.
I’ve got crickets all in my meal.
Sang er zu mir? Hatte er meinen Gesichtsausdruck gesehen, wusste er, wie mir zumute war? Es war ein altes, trauriges Lied.
Pris ist keine von uns, ging es mir durch den Kopf. Pristine – das war wirklich der passende Name: die Unberührte, Makellose. Was Menschen bewegt, was sich zwischen Menschen abspielt, kann sie nicht berühren. Wenn man sie ansieht, sieht man uns, wie wir begonnen haben, vor ein oder zwei Millionen Jahren… Der Song, den Earl Grant sang, war eine der Möglichkeiten, uns zu zähmen, zu mäßigen, langsam zu formen. Ja, der Schöpfer war noch immer bei der Arbeit, er formte noch immer. Doch nicht Pris – bei ihr gab es kein Formen, kein Gestalten mehr.
Als ich Pris angesehen habe, habe ich das Andere gesehen, dachte ich. Was bleibt mir jetzt noch? Nur das Warten auf den Tod. So wie bei dem Booth-Simulacrum. Am Ende hat es doch noch die gerechte Strafe für seine Tat von vor über einem Jahrhundert erhalten. Lincoln hatte vor seinem Tod im Traum einen schwarz verhüllten Sarg und eine Trauerprozession gesehen. Was hatte das Simulacrum wohl letzte Nacht geträumt?
Dieser Traum würde uns alle heimsuchen. Der schwarze Krepp, drapiert auf dem durch Kornfelder fahrenden Zug. Menschen, die ihn kommen sehen und die Hüte abnehmen. Der Sarg, bewacht von Soldaten in Blau, die Gewehre tragen und sich die ganze Zeit über nicht vom Fleck rühren, vom Beginn bis Ende der langen Fahrt…
»Mr. Rosen?«
Erschrocken blickte ich auf. Colleen Nild stand neben mir.
»Könnten Sie uns behilflich sein? Mr. Barrows geht gerade das Auto holen. Wir wollen das Booth-Simulacrum hier wegschaffen.«