Mein Vater hatte ihr Lachen ebenfalls gehört. »Ja, vielleicht hätte ich rauskommen und dieser Farce ein Ende machen sollen, Louis, aber ich wollte wissen, was Mr. Barrows sagt. Er ist in mancher Beziehung ein großer Mann. Setz dich.«
Ich nahm auf einem Stuhl neben dem Bett Platz. »Du weißt auch nicht, wo sie ist? Du kannst mir auch nicht helfen?«
»Ich fürchte nicht, Louis.«
Die Tür knallte auf, und ein Mann, dessen Gesicht verkehrt herum war, kam herein – mein Bruder Chester, geschäftig wie eh und je. »Ich habe ein gutes Zimmer für uns gefunden, Dad«, sagte er. Dann sah er mich und lächelte glücklich. »Hier steckst du also, Louis. Haben wir dich endlich aufgetrieben.«
Mein Vater legte mir die Hand auf den Arm. »Ich war mehrere Male versucht, Mr. Barrows zu korrigieren. Aber einem Mann wie ihm kann man nichts Neues mehr beibringen, also wozu die Zeitverschwendung?«
Ich merkte, wie ich langsam wegdriftete. Die Worte meines Vaters verschwammen. Ich stellte mir vor, wie es gewesen wäre, wenn ich Pris hier in diesem Zimmer gefunden hätte, hier auf dem Bett liegend, schlafend, betrunken vielleicht. Ich hätte sie aufgestützt und in meinen Armen gehalten, hätte ihr die Haare aus den Augen gestrichen und sie hinters Ohr geküsst. Ich sah sie vor mir, wie sie langsam wieder ins Leben zurückkehrte.
»Du hörst mir gar nicht zu«, sagte mein Vater tadelnd. Das stimmte: Ich war ganz woanders, nicht mehr in dieser trostlosen, enttäuschenden Wirklichkeit, sondern in meiner Pris-Phantasie, in meinem Traum von einem glücklicheren Leben.
In diesem Traum küsste ich Pris noch einmal, und sie öffnete die Augen. Ich ließ sie wieder zurücksinken, legte mich neben sie, umarmte sie.
»Wie geht es der Lincoln?« Pris’ Stimme, ein Flüstern an meinem Ohr. Sie war überhaupt nicht erstaunt, mich zu sehen; tatsächlich zeigte sie gar keine Reaktion. Aber so war sie eben.
»Ganz gut.« Ich strich ihr über die Haare, während sie dalag und in der Dunkelheit zu mir sah. »Nein, tatsächlich geht es ihr sehr schlecht. Sie hat eine Depression. Aber was kümmert dich das? Du hast sie ja so gebaut.«
»Ich habe sie gerettet«, erwiderte Pris kühl. »Gib mir eine Zigarette, ja?«
Ich steckte ihr eine Zigarette an und reichte sie ihr.
Schwach konnte ich die Stimme meines Vaters hören. »Ignoriere dieses Zerrbild, mein Sohn. Es entfernt dich aus der Realität. Das ist, was Doktor Horstowski krankhaft nennt, erkennst du das nicht?«
Dann Chesters Stimme: »Es ist Schizophrenie, Dad. Millionen Amerikaner leiden daran, ohne es zu wissen. Sie gehen nie in die Klinik deswegen. Ich habe einen Artikel darüber gelesen.«
»Du bist ein guter Mensch, Louis«, sagte Pris. »Ich empfinde Mitleid für dich, weil du mich liebst. Du verschwendest deine Zeit, aber das ist dir egal. Kannst du mir sagen, was Liebe ist? Eine Liebe wie diese?«
»Nein.«
»Kannst du es nicht versuchen?« Sie stützte sich auf. »Ist die Tür abgeschlossen? Wenn nicht, dann geh sie abschließen.«
»Aber… ich kann sie nicht aussperren. Wir werden sie nie loswerden, wir werden nie allein sein.« Trotzdem stand ich auf, machte die Tür zu und schloss ab.
Als ich mich wieder zum Bett umdrehte, öffnete Pris gerade den Reißverschluss ihres Rocks. Sie zog sich den Rock über den Kopf und schleuderte ihn von sich. Dann trat sie ihre Schuhe weg. »Wer sonst kann es mir beibringen, Louis, wenn nicht du?« Sie begann, ihre Unterwäsche auszuziehen.
»Nein, Pris!«
»Warum nicht?«
»Ich halte das nicht aus. Ich muss nach Boise und Doktor Horstowski aufsuchen. Das kann doch jetzt nicht so weitergehen, nicht hier mit meiner Familie im selben Zimmer.«
»Morgen fliegen wir nach Boise zurück. Aber nicht jetzt.« Sie schlug die Decke zurück, schlüpfte hinein und nahm sich wieder ihre Zigarette. »Ich bin so müde, Louis. Bleib heute Nacht bei mir.«
»Das geht nicht.«
»Dann nimm mich dorthin mit, wo du übernachtest.«
»Das geht auch nicht. Die Lincoln ist dort.«
»Ach, ich möchte einfach nur schlafen. Leg dich zu mir. Sie werden uns schon nicht stören. Hab keine Angst vor ihnen. Es tut mir leid, dass die Lincoln einen ihrer depressiven Schübe hat. Aber gib nicht mir dafür die Schuld – so ist sie eben. Und ich habe ihr das Leben gerettet. Sie ist mein Kind, nicht wahr?«
»So könnte man es ausdrücken, ja.«
»Ich habe sie zur Welt gebracht, und ich bin darauf sehr stolz. Als ich dieses Booth-Ding gesehen habe, da wollte ich nur eines – es auf der Stelle töten. Ach, ich wünschte, ich hätte dich genauso zur Welt gebracht wie die Lincoln, ich wünschte, ich hätte alle möglichen Leute zur Welt gebracht – alle. Ich schenke Leben, aber heute Nacht habe ich Leben genommen. Es braucht einige Stärke, jemandem das Leben zu nehmen, meinst du nicht auch, Louis?«
»Ja.« Ich setzte mich neben sie auf das Bett.
Sie streckte die Hand aus und strich mir die Haare aus dem Gesicht. »Ich habe diese Macht über dich. Ich kann dir Leben schenken und es dir wieder nehmen. Ängstigt dich das?«
»Nicht mehr. Es hat mich einmal geängstigt, als es mir zum ersten Mal klar geworden ist.«
»Mich hat es nie geängstigt. Sonst hätte ich diese Macht verloren. Und ich muss sie behalten – irgendjemand muss sie doch haben.«
Ich antwortete nicht. Zigarrenrauch zog an mir vorbei, verursachte mir Übelkeit, machte mir meinen Vater und meinen Bruder bewusst, die beide aufmerksam zusahen.
»Der Mensch braucht immer ein paar Illusionen«, sagte mein Vater paffend, »aber das hier ist lachhaft.« Chester nickte.
»Pris«, flüsterte ich.
»Schau dir das an«, rief mein Vater aufgebracht. »Er redet mit ihr.«
»Raus mit euch!« Ich wedelte heftig mit den Armen, doch es nützte nichts, sie rührten sich nicht von der Stelle.
»Du sollst wissen, Louis«, sagte mein Vater, »dass ich Verständnis für dich habe. Ich sehe, was Mr. Barrows nicht sieht – das Edle an deiner Suche.«
In der Dunkelheit konnte ich Pris wieder ausmachen. Sie hatte ihre Sachen aufgeklaubt und saß nun auf der Bettkante, die Kleider an ihren Bauch gepresst. »Spielt es eine Rolle, was irgendwer über uns sagt oder denkt?«, fragte sie. »Ich würde mir darüber nicht den Kopf zerbrechen, ich würde Wörtern nicht so viel Wirklichkeit zubilligen. Da draußen sind sie alle wütend auf uns, Sam und Maury und der ganze Rest. Aber die Lincoln hätte dich nie hierher geschickt, wenn es nicht das Richtige wäre, meinst du nicht auch?«
»Pris, ich weiß, dass alles gut wird. Vor uns liegt eine glückliche Zukunft.«
Sie lächelte. Es war ein Lächeln voller Traurigkeit, und für einen Moment kam es mir vor, als stammte das, was ich am Lincoln-Simulacrum wahrgenommen hatte, von Pris. Der Schmerz, den sie empfand – sie hatte ihn in ihr Werk einfließen lassen, ohne es zu wollen, vielleicht sogar ohne auch nur von ihm zu wissen.
»Ich liebe dich, Pris.«
Sie richtete sich auf – nackt, dünn, zitternd –, legte die Hände an die Seiten meines Kopfes und zog mich hinunter.
»Er schläft«, sagte mein Vater zu Chester. »Mein Sohn schläft. Und er liebt – wenn du mir folgen kannst.«
»Was werden sie in Boise dazu sagen?«, fragte mein Bruder verärgert. »Ich meine, wie können wir denn mit ihm wieder nach Hause, wenn er so ist?«
»Ach halt den Mund, Chester. Du verstehst seine Psyche nicht, das, was er sucht. Es ist wie eine Art Rückkehr zum Ursprung, zu der Quelle, von der wir uns abgewandt haben.«
»Hörst du sie?«, fragte ich Pris.
An mich gepresst lag sie da und sah mich mit ausdruckslosem Gesicht an. Und doch war sie absolut aufmerksam. Für sie hatte in diesem Moment alles ein Ende – Veränderung und Wirklichkeit, die Ereignisse ihres Lebens, die Zeit an sich… Sie hob die Hand und berührte mich an der Wange, strich mit ihren Fingerspitzen darüber.