Von der Tür her vernahm ich Colleen Nilds Stimme. »Wir werden jetzt gehen, Mr. Rosen, und die Wohnung Ihnen überlassen.«
Weder Pris noch ich erwiderten etwas. Kurz darauf hörten wir, wie die Wohnungstür ins Schloss fiel.
»Das ist aber nett von ihnen«, sagte mein Vater. »Louis, du hättest dich wenigstens bedanken können. Dieser Mr. Barrows ist wirklich ein Gentleman.«
»Ja, du solltest dankbar sein«, knurrte Chester.
Die beiden starrten uns vorwurfsvoll an.
Ich drückte Pris an mich. Das war alles, was ich wollte.
Siebzehn
Als mein Vater und Chester mich am nächsten Tag nach Boise zurückbrachten, stellte sich heraus, dass Doktor Horstowski mich nicht behandeln konnte oder wollte. Er machte jedoch verschiedene psychologische Tests mit mir, um eine Diagnose zu stellen. Bei einem musste ich einer Aufnahme von Stimmen zuhören, die so leise flüsterten, dass nur ab und zu ein paar Satzbrocken zu verstehen waren. Die Aufgabe bestand darin, aus dem, was man verstand, zu schließen, um was es insgesamt ging.
Ich glaube, Horstowski hat seine Diagnose aufgrund der Ergebnisse dieses Tests gestellt, denn ich war mir sicher, dass sich die Stimmen über mich ausließen, über meine Fehler, meine Schwächen. Sie analysierten mich, bewerteten mein Verhalten, ja ich hörte sie über Pris und unsere Beziehung herziehen.
Horstowski seufzte. »Jedes Mal, wenn Sie das Wort ›ist‹ gehört haben, dachten Sie, man hätte ›Pris‹ gesagt. Und was Sie für ›er‹ gehalten haben, waren meist nur Wörter wie ›sehr‹ oder ›schwer‹.« Er sah mich betrübt an – und dann wollte er nichts mehr mit mir zu tun haben.
Aber noch war ich für die Psychiater nicht verloren, denn Doktor Horstowski übergab mich dem Bundesbeauftragten des Federal Bureau of Mental Health in Zone 5, dem pazifischen Nordwesten. Ich hatte schon von ihm gehört. Sein Name war Doktor Ragland Nisea, und ihm oblag es, die abschließende Entscheidung über sämtliche seine Zone betreffende Einweisungsverfahren zu fällen. Seit 1980 hatte er Tausende von psychisch Kranken in die überall im Land verteilten Kliniken des FBMH eingewiesen. Er wurde allgemein als brillanter Psychiater angesehen, und wir hatten seit Jahren gescherzt, dass wir alle Nisea früher oder später in die Hände fallen würden – ein Witz, der sich für einen gewissen Prozentsatz von uns als zutreffend erwies.
»Sie werden sehen, Doktor Nisea ist äußerst einfühlsam«, sagte Horstowski, während er mich zur Geschäftsstelle des FBMH in Boise fuhr.
»Nett von Ihnen, dass Sie mich hinbringen.«
»Ich muss da sowieso fast jeden Tag hin. Wissen Sie, ich erspare Ihnen damit das Erscheinen vor Gericht. Bei Doktor Nisea sind Sie besser dran als vor einer Jury.«
Ich nickte.
»Sie hegen doch keine feindseligen Gefühle deswegen, oder? Es ist keine Schande, in eine Klinik des FBMH eingewiesen zu werden. Das geschieht fast jede Minute – einer von neun Menschen leidet an einer psychischen Erkrankung, die es ihm unmöglich macht…« Er redete weiter; ich hörte nicht hin. Ich kannte das alles schon, aus der Fernsehwerbung, aus unzähligen Zeitungsartikeln.
Aber tatsächlich hatte ich feindselige Gefühle ihm gegenüber – weil er mich loswerden wollte, weil er mich dem FBMH übergab –, obwohl ich wusste, dass er gesetzlich dazu verpflichtet war, wenn er zu dem Schluss kam, ich wäre psychotisch. Und ich hatte feindselige Gefühle allen anderen gegenüber, die beiden Simulacra eingeschlossen. Während wir durch die sonnigen, vertrauten Straßen von Boise fuhren, war mir, als ob sie alle Verräter und Feinde wären, als wäre ich von einer fremden, hasserfüllten Welt umgeben.
Das alles hatte sich natürlich in den Tests gezeigt, die Horstowski mit mir durchgeführt hatte. Beim Rorschachtest etwa hatte ich jeden Klecks, jedes Bild als voller scheppernder, scharfkantiger Maschinen interpretiert, die am Anbeginn der Zeit geschaffen worden waren, um mir Verletzungen zuzufügen. Und jetzt, auf der Fahrt zum FBMH, sah ich reihenweise Autos, die uns folgten. Uns folgten, weil ich wieder in der Stadt war – die Fahrer der Autos waren in dem Moment informiert worden, als ich auf dem Flughafen von Boise gelandet war.
»Kann Doktor Nisea mir helfen?«, fragte ich, als wir vor einem großen, modernen Bürogebäude hielten. Auf einmal spürte ich eine leichte Panik. »Ich meine, das FBMH verfügt über diese ganzen neuen Methoden, die nicht einmal Sie haben, die gerade erst…«
»Das hängt davon ab, was Sie mit ›helfen‹ meinen.« Horstowski öffnete die Tür und bedeutete mir, mitzukommen.
Und so war ich schließlich dort, wo vor mir so viele andere gelandet waren: im Federal Bureau of Mental Health, diagnostische Abteilung. Der erste Schritt in einen neuen Abschnitt meines Lebens – vielleicht.
Wie recht Pris doch gehabt hatte! Dass ich einen zutiefst instabilen Zug an mir hätte, der mich eines Tages in Schwierigkeiten bringen würde. Unter Wahnvorstellungen leidend, erschöpft und hoffnungslos war ich schließlich von den Behörden einkassiert worden, wie sie selbst vor einigen Jahren. Ich hatte Horstowskis Diagnose zwar nicht gesehen, aber ich war mir sicher, dass er schizophrene Reaktionen festgestellt hatte – ich spürte sie ja selbst. Wozu also das Offensichtliche leugnen?
Aber es gab noch Hilfe für mich. Noch befand ich mich im Frühstadium, war die Krankheit nicht voll ausgebrochen, hatten sich noch keine dauerhaften Verhaltensstörungen wie Hebephrenie oder Paranoia eingestellt. Noch war ich therapierbar. Ich konnte meinem Vater und Bruder also dankbar sein, dass sie genau zur rechten Zeit gehandelt hatten.
Und obwohl mir das alles klar war, begleitete ich Horstowski in einem zutiefst verängstigten Zustand in die Büroräume des FBMH. Ich war einsichtig und war es gleichzeitig nicht; ein Teil von mir wusste Bescheid, verstand, der Rest war in Aufruhr wie ein gefangenes Tier, das zurück in seine vertraute Umgebung wollte, zurück an die Orte, die es kennt. In diesem Augenblick konnte ich nur für einen kleinen Teil von mir sprechen – der Rest machte, was er wollte.
Das alles verdeutlichte mir die Notwendigkeit des McHeston Act. Ein psychotisches Individuum, wie ich es war, konnte nicht von sich aus Hilfe suchen; es musste per Gesetz dazu gezwungen werden.
Du bist auch mal so gewesen, Pris, dachte ich. Sie haben dich aufgestöbert und von den anderen getrennt, haben dich weggeholt, wie sie mich weggeholt haben. Und sie haben es geschafft, dich wiederherzustellen, dich wieder in die Gesellschaft zu integrieren. Wird ihnen das auch mit mir gelingen? Und werde ich wie du sein, wenn die Therapie vorbei ist? In welchen früheren Zustand meines Ich werden sie mich zurückversetzen? Was werde ich dann für dich empfinden? Werde ich mich noch an dich erinnern? Und wenn ja, wirst du mir immer noch so viel bedeuten?
Doktor Horstowski lieferte mich im Warteraum ab, und eine Stunde lang saß ich inmitten der anderen verwirrten, kranken Menschen, bis endlich eine Schwester kam und mich ins Büro von Doktor Nisea brachte. Er erwies sich als gutaussehender Mann, nur wenig älter als ich, mit sanften braunen Augen, dichtem Haar und einer vorsichtigen Art, die ich bisher nur bei Tierärzten bemerkt hatte. Er fragte mich, ob ich wusste, warum ich bei ihm war.
»Ich bin hier, weil ich keine Basis mehr habe, von der aus ich anderen Menschen meine Bedürfnisse und Gefühle mitteilen kann.« Während des Wartens hatte ich mir das alles genau überlegt. »So besteht für mich keine Möglichkeit mehr, meine Bedürfnisse in der Realität zu befriedigen. Stattdessen muss ich mich in meine Phantasie flüchten.«
Nisea lehnte sich in seinem Stuhl zurück und sah mich nachdenklich an. »Und das möchten Sie ändern.«
»Ich möchte Befriedigung finden, echte Befriedigung.«
»Haben Sie denn überhaupt nichts mit den anderen Menschen gemein?«