»Gar nichts. Meine Wirklichkeit liegt gänzlich außerhalb der Welt, die die anderen erfahren. Sie zum Beispiel -Sie würden es für ein Hirngespinst halten, wenn ich Ihnen davon erzählen würde. Von ihr, meine ich.«
»Von ihr?«
»Pris.«
Er wartete, aber ich sagte nichts weiter.
»Doktor Horstowski hat mir am Telefon von Ihnen erzählt. Offensichtlich haben wir es hier mit einer Problemdynamik zu tun, die wir den Magna-Mater-Typus der Schizophrenie nennen. Gesetzlich bin ich allerdings verpflichtet, zuerst den James-Benjamin-Sprichworttest an Ihnen durchzuführen und dann den sowjetischen Vygotsky-Luria-Klotztest.« Nisea nickte, und eine Assistentin mit Notizblock und Bleistift kam nach vorne zum Tisch. »Ich werde Ihnen jetzt verschiedene Sprichwörter nennen, und Sie sagen mir, was sie bedeuten. Sind Sie bereit?«
»Ja.«
»›Wenn die Katze aus dem Haus ist, tanzen die Mäuse auf dem Tisch.‹«
Ich überlegte. »Ohne Aufsicht kommt es zu Übeltaten.«
Wir fuhren fort, und ich machte so weit alles richtig, bis wir zu einem Sprichwort kamen, das sich für mich als fatal erwies.
»›Ein Stein, der rollt, setzt kein Moos an.‹«
So sehr ich mir auch den Kopf zerbrach, ich kam nicht auf die Bedeutung. Schließlich sagte ich ins Blaue hinein: »Na ja, es bedeutet, dass jemand, der ständig aktiv ist und niemals innehält und nachdenkt…« Nein, das klang falsch. »Es bedeutet, dass jemand, der ständig aktiv ist und immer mehr an geistiger und moralischer Statur gewinnt, nicht erstarren wird.« Auch nicht. »Ein Mensch, der tätig ist und in Bewegung bleibt, wird im Leben weiterkommen.«
Nisea nickte. »Ah ja.« Mir wurde klar, dass ich gerade, im Rahmen der rechtsgültigen Diagnostik, eine schizophrene Denkstörung hatte erkennen lassen.
»Habe ich es falsch gesagt?«
»Ich fürchte, ja. Die allgemein anerkannte Bedeutung des Sprichworts ist das genaue Gegenteil dessen, was Sie gesagt haben. Es wird so verstanden, dass ein unbeständiger…«
»Nein, sagen Sie es mir nicht. Ich weiß es wieder. Ein unbeständiger Mensch wird es zu nichts bringen.«
Nisea schmunzelte leicht und ging zum nächsten Sprichwort über. Doch die gesetzliche Bedingung war erfüllt – ich wies nun offiziell eine psychische Beeinträchtigung auf.
Nach den Sprichwörtern probierten wir es mit dem Sortieren bunter Klötze, jedoch ohne großen Erfolg. Nisea war ebenso erleichtert wie ich, als ich aufgab und die Klötze wegschob.
»Gut, das wär’s.« Er schickte die Assistentin hinaus. »Wir können uns jetzt den Formalitäten widmen. Ziehen Sie eine bestimmte Klinik vor? Meiner Meinung nach ist die in Los Angeles die beste, aber das liegt vielleicht auch nur daran, dass ich sie am besten kenne. Die Kasanin-Klinik in Kansas City…«
»Ja, schicken Sie mich dorthin.«
»Aus irgendeinem bestimmten Grund?«
»Freunde von mir waren dort.«
Er sah mich skeptisch an.
»Und einen guten Ruf hat sie auch. Fast alle, die ich kenne, denen mit ihrer Erkrankung wirklich geholfen wurde, sind in der Kasanin gewesen. Andere Kliniken sind natürlich auch gut, aber das ist die beste. Meine Tante Gretchen etwa – sie war der erste psychisch kranke Mensch, den ich kennengelernt habe. Und von denen gibt es eine ganze Menge. Mein Cousin Leo Roggis, er ist immer noch irgendwo in einer der Kliniken. Mein Englischlehrer auf der Highschool, Mr. Haskins, er ist in einer Klinik gestorben. Dann war da noch ein alter Italiener, der in meiner Straße wohnte, George Oliveri. Er hatte katatone Zustände. Ein Kumpel beim Militär, Art Bowles – er hatte Schizophrenie und kam in die Fromm-Reichmann-Klinik in Rochester, New York. Dann Alys Johnson, mit der ich auf dem College zusammen war. Sie ist in der Samuel-Anderson-Klinik in Zone 3 – das ist in Baton Rouge, Laramie. Und ein Mann, für den ich einmal gearbeitet habe, Ed Yeats. Er erkrankte an Schizophrenie, die in akute Paranoia überging. Waldo Dangerfield, noch ein Kumpel von mir. Gloria Milstein, eine Bekannte – sie wurde durch einen Psychotest aufgespürt, als sie sich um eine Stelle als Schreibkraft bewarb. Die Leute vom FBMH haben sie gleich mitgenommen. Sie war sehr attraktiv, ohne den Test wäre da niemand draufgekommen. Und John Franklin Mann, ein Gebrauchtwagenhändler, den ich kannte – ein Test erwies ihn als Schizophrenen, und ab ging’s, in die Kasanin, glaube ich, weil er Verwandte in Missouri hat. Und Marge Morrison, noch eine Bekannte von mir. Sie ist wieder draußen, und ich bin mir sicher, dass sie in der Kasanin war. Von den ganzen Leuten waren alle, die in die Kasanin geschickt wurden, anschließend so gut wie neu. In der Kasanin werden nicht nur die Vorschriften des McHeston Act erfüllt – dort wird richtig geheilt. So kommt es mir jedenfalls vor.«
Nisea schrieb ›Kasanin-Klinik K.C.‹ in das Formular. »Ja, Kansas City soll gut sein. Der Präsident hat zwei Monate dort verbracht, wussten Sie das?«
»Davon habe ich gehört.« Jeder kannte die Geschichte vom heldenhaften Kampf des Präsidenten mit seiner psychischen Erkrankung in der Pubertät.
»Nun gut, bevor wir uns voneinander verabschieden, möchte ich Ihnen noch etwas über den Magna-Mater-Typus erzählen.«
»Gerne.«
»Tatsächlich handelt es sich um ein besonderes Interessengebiet von mir. Ich habe mehrere Monografien darüber geschrieben. Sie kennen die Anderson-Theorie, die jede Unterform der Schizophrenie mit einer Unterform der Religion gleichsetzt?«
Ich nickte. Diese Theorie war von praktisch jedem Hochglanzmagazin der USA thematisiert worden; es war die aktuelle Mode.
»Die Hauptform der Schizophrenie ist demnach die heliozentrische. Darunter leiden Sie nicht. Die heliozentrische Form ist die simpelste und entspricht der frühesten bekannten Religion, der Sonnenanbetung, darunter der Mithraismus, der heliozentrische Kult der Römerzeit, und die Verehrung von Mazda, der frühe persische Sonnenkult. Die Sonne steht für den Vater der Patienten.«
Ich nickte.
»Die Magna Mater nun, die Form, die Sie haben, bezieht sich auf den Kult der Großen Göttin im mediterranischen Raum zur Zeit der mykenischen Kultur. Ischtar, Kybele, Attis, später dann Athene, schließlich die Jungfrau Maria. Ihnen ist Folgendes widerfahren: Ihre Anima, die Verkörperung Ihres Unbewussten, wurde nach außen projiziert und wird nun dort von Ihnen wahrgenommen und verehrt.«
»Verstehe.«
»Und sie wird als gefährliches, feindseliges, doch zugleich anziehendes Wesen wahrgenommen. Die Verkörperung aller Gegensätze: Sie hat alles Leben in sich und ist doch tot, alle Liebe und ist doch kalt, alle Kreativität und neigt doch zu destruktivem analytischem Denken. Wenn diese Gegensätze unmittelbar erfahren werden, wie es gerade bei Ihnen geschieht, ist es unmöglich, mit ihnen fertig zu werden. Sie verwirren Ihr Ego und vernichten es schließlich, denn wie Sie wissen, sind sie in ihrer ursprünglichen Form Archetypen und können nicht durch das Ego integriert werden.«
»Aha.«
»Es ist der große Kampf des Bewusstseins, zu einem Verständnis seiner eigenen kollektiven Aspekte zu gelangen, seines Unbewussten, und dieser Kampf ist zum Scheitern verurteilt. Die Archetypen des Unbewussten müssen mittelbar erfahren werden, durch die Anima, und in einer gutartigen Form, die frei von bipolaren Eigenschaften ist. Dafür müssen Sie eine völlig andere Beziehung zu Ihrem Unbewussten aufbauen. So, wie die Sache gerade aussieht, sind Sie passiv, das Unbewusste besitzt sämtliche Entscheidungsgewalt.«
»Richtig.«
»Ihr Bewusstsein ist verkümmert und daher nicht länger handlungsfähig. Es besitzt keine andere Autorität als diejenige, die es aus dem Unbewussten bezieht, und im Augenblick ist es vom Unbewussten abgeschnitten. Also lässt sich über die Anima keine Harmonie herstellen. Sie haben eine relativ harmlose Form der Schizophrenie, Mr. Rosen. Aber es ist immer noch eine Psychose und erfordert die Behandlung in einer staatlichen Klinik. Ich würde Sie gern wiedersehen, wenn Sie aus Kansas City zurückkommen – es wird Ihnen dann viel besser gehen.« Nisea lächelte mich aufmunternd an, und ich erwiderte sein Lächeln.