In einer formalen Anhörung vor Zeugen überreichte er mir dann den Einweisungsbescheid und fragte, ob es irgendwelche Gründe gäbe, warum ich nicht sofort nach Kansas City überstellt werden sollte. Mir fielen keine ein. Er gab mir acht Stunden zur Regelung meiner persönlichen Angelegenheiten und ließ seine Assistentin einen Flug reservieren. Dann verabschiedeten wir uns voneinander.
Ich fuhr mit einem Taxi zu Maurys Haus, wo ich einen Großteil meiner Habseligkeiten zurückgelassen hatte. Dort angekommen, klopfte ich an der Tür.
Es war offenbar niemand zu Hause. Ich drehte den Türknauf – es war nicht abgeschlossen. Also betrat ich das stille, verlassene Haus.
Im Badezimmer war das Wandmosaik, an dem Pris damals gearbeitet hatte. Jetzt war es fertig. Ich betrachtete es für eine Weile, die Meerjungfrau und den Fisch, den Kraken mit den hellen Knopfaugen. Ein Stück Fliese hatte sich gelockert. Ich riss es ganz ab, rieb den krümeligen Klebstoff von der Rückseite und steckte es in die Tasche.
Nur für den Fall, dass ich dich vergessen sollte, dachte ich. Dich und dein Badezimmermosaik, deine Meerjungfrau mit den pinken Brüsten, deine schönen, monströsen Geschöpfe, die unter der Wasseroberfläche tanzen, im friedlichen, ewigen Wasser… Sie hatte die Linie über Kopfhöhe gezogen, beinahe zwei Meter fünfzig hoch. Darüber Himmel, allerdings nur ein wenig – der Himmel spielte in ihrer Schöpfung keine Rolle.
Plötzlich hörte ich ein Geräusch. Jemand war ins Haus gekommen. Ich wartete, und nach einiger Zeit kam Maury Rock an der Badezimmertür vorbeigerauscht. Als er mich sah, blieb er ruckartig stehen. »Louis Rosen… In meinem Badezimmer.«
»Ich bin gleich wieder weg.«
»Eine Nachbarin hat mich im Büro angerufen. Sie hat gesehen, wie du hineingegangen bist.«
»Immer wird mir hinterherspioniert. Überall. Egal, wo ich bin.« Ich blieb stehen, wo ich war, die Hände in den Taschen.
»Sie fand einfach, dass ich Bescheid wissen sollte. Ich dachte mir schon, dass du es bist.« Er sah meinen Koffer und die Sachen, die ich zusammengesucht hatte. »Du bist doch kaum erst aus Seattle zurück – und jetzt willst du schon wieder los?«
»Ich muss, Maury. Das verlangt das Gesetz.«
Er blickte mich an und wurde dabei ganz rot im Gesicht. »Tut mir leid, Louis. Ich wollte nicht…«
»Ich bin heute beim Benjamin-Test und bei diesem Klotz-Ding durchgefallen. Es ist bereits alles arrangiert.«
Er rieb sich das Kinn. »Wer hat dich verpfiffen?«
»Mein Vater und Chester.«
»Deine eigene Familie?«
»Sie haben mich vor der Paranoia bewahrt. Aber sag mal, Maury – weißt du, wo sie steckt?«
»Wenn ich es wüsste, würde ich es dir sagen, ganz ehrlich. Trotz allem.«
»Rat mal, wo ich zur Behandlung hinkomme.«
»Kansas City?«
Ich nickte.
»Vielleicht findest du sie dort. Vielleicht hat das FBMH sie sich wieder geschnappt und vergessen, mir Bescheid zu sagen.«
»Ja, könnte sein.«
Er klopfte mir auf den Rücken. »Viel Glück, mein Freund. Ich weiß, dass du da wieder rauskommst. Du hast bestimmt Schizophrenie – was anderes gibt’s ja gar nicht mehr.«
Ich holte die Scherbe aus der Tasche und zeigte sie ihm. »Ein Andenken an sie. Ich hoffe, du hast nichts dagegen.«
»Nein. Behalte sie nur. Oder nimm gleich einen ganzen Fisch. Oder eine Brust.«
»Die Scherbe genügt.«
Eine Weile standen wir verlegen da und sahen uns an. »Und wie ist es so, schizophren zu sein?«, fragte er schließlich.
»Schlimm, Maury. Ganz, ganz schlimm.«
»Hab ich mir gedacht. Hat Pris auch immer gesagt. Sie war froh, es hinter sich zu haben.«
»Dass ich nach Seattle gefahren bin, damit ging es los. Das nennt man katatone Erregtheit, das Gefühl, dass man unbedingt etwas unternehmen muss. Es stellt sich dann aber immer als das Falsche heraus, man erreicht nichts damit. Man merkt es und gerät in Panik, und dann kriegt man sie, die richtige Psychose. Ich hab Stimmen gehört und… Dinge gesehen.«
»Was denn für Dinge?«
»Pris.«
»Auutsch.«
»Bringst du mich zum Flughafen?«
»Natürlich.« Er nickte energisch.
»Ich muss erst am späten Abend dort sein. Also könnten wir vielleicht vorher noch etwas zusammen essen. Weißt du, ich möchte es vermeiden, meiner Familie zu begegnen nach dem, was passiert ist. Ich schäme mich irgendwie.«
»Wie kommt es, dass du so vernünftige Sachen sagst, wo du doch schizophren bist?«
»Ich stehe gerade nicht unter Druck, also kann ich meine Aufmerksamkeit bündeln. Das passiert nämlich bei einem schizophrenen Schub – die Aufmerksamkeit wird geschwächt, sodass sich unbewusste Prozesse breitmachen und die Macht übernehmen. Sie kapern sozusagen das Bewusstsein, sehr archaische Prozesse, archetypische, wie sie ein Nicht-Schizophrener zuletzt gehabt hat, als er fünf gewesen ist.«
»Du denkst also verrücktes Zeug, wie dass alle gegen dich sind und du der Mittelpunkt des Universums bist?«
»Nein. Wie Doktor Nisea mir erklärt hat, sind es die heliozentrischen Schizophrenen, die…«
»Nisea? Ragland Nisea? Natürlich, es ist ja gesetzlich vorgeschrieben, dass du ihn aufsuchen musst. Er hat auch Pris damals eingewiesen. Er hat den Vygotsky-Luria-Klotztest mit ihr gemacht, persönlich. Ich wollte ihn immer mal kennenlernen.«
»Brillanter Mann. Und sehr human.«
»Bist du denn gefährlich?«
»Nur, wenn man mich reizt.«
»Sollte ich dann besser gehen?«
»Ja. Aber ich sehe dich heute Abend, hier, zum Essen. Gegen sechs. Dann bleibt noch genug Zeit, den Flug zu kriegen.«
»Kann ich irgendetwas für dich tun? Dir irgendetwas besorgen?«
»Nein. Aber danke.«
»Okay.« Maury drehte sich um und ging. Kurz darauf hörte ich die Vordertür zufallen. Es war wieder still im Haus. Ich war wieder allein.
Später aßen Maury und ich zusammen, dann fuhr er mich in seinem weißen Jaguar zum Flughafen. Ich sah zu, wie die Straßen an mir vorbeizogen, und jede Frau, die ich sah, erinnerte mich – wenigstens für einen Moment – an Pris; jedes Mal dachte ich, dass sie es war, aber sie war es nicht.
Der Flug, den man für mich gebucht hatte, war erster Klasse und auf dieser neuen australischen Rakete, der C-80. Das FBMH, dachte ich, hat offenbar jede Menge öffentlicher Gelder zum Verbraten. Nach einer halben Stunde Flug landeten wir bereits wieder. Ich stieg aus der Rakete und hielt nach meinem Empfangskomitee Ausschau.
Ein junger Mann und eine junge Frau kamen auf mich zu. Beide trugen sie Mäntel mit bunten, strahlenden Schottenmustern. Das waren sie – in Boise hatte man mir gesagt, dass ich auf solche Mäntel achten sollte.
»Mr. Rosen?«, fragte der junge Mann.
»Ja.«
Die beiden nahmen mich in die Mitte, und gemeinsam gingen wir zum Flughafengebäude. »Ein bisschen arg kalt heute, nicht wahr?«, sagte die Frau. Sie waren keine zwanzig, halbe Kinder noch. Vermutlich waren sie aus lauter Idealismus zum FBMH gegangen. Sie lenkten mich zur Gepäckausgabe, machten gedämpfte Konversation über nichts Besonderes… Ich wäre ganz entspannt gewesen, hätte ich nicht bereits im grellen Licht der Leuchtfeuer, mit denen die Schiffe eingewiesen wurden, gesehen, dass die junge Frau Pris erstaunlich ähnlich sah.
»Wie heißen Sie?«, fragte ich sie.
»Julie. Und das ist Ralf.«
»Haben Sie… erinnern Sie sich noch an eine Patientin, die Sie hier vor ein paar Monaten gehabt haben, eine junge Frau aus Boise namens Pris Frauenzimmer?«
»Tut mir leid, ich bin erst letzte Woche in die Kasanin-Klinik versetzt worden. Er auch. Wir sind noch nicht lange beim Bureau.«