»Jerome, ich weiß, wie die Orgel funktioniert. Lass mich bitte ausreden.«
»Na schön.« Mein Vater legte die Platte wieder weg. »Aber wenn du von uns erwartest, dass wir die Basis unseres Lebensunterhalts lediglich aus verkaufstechnischen Gründen aufgeben – und ich weiß, wovon ich spreche, ich bin auf dem Gebiet ja selbst nicht unerfahren –, nur weil vielleicht die Verkaufstechnik überholt ist oder sich keiner mehr Mühe gibt, einen Abschluss zu…«
»Jerome, hör mir zu. Ich schlage vor, dass wir uns vergrößern.«
Mein Vater hob eine Braue.
»Ihr Rosens könnt natürlich so viele Elektroorgeln herstellen, wie ihr wollt. Aber der Umsatz, den wir mit ihnen machen, wird immer weiter sinken, so einzigartig und toll sie auch sind. Was wir brauchen, ist etwas wirklich Neues. Hammerstein produziert diese Stimmungsorgeln und kommt hervorragend an damit – die haben den Markt fest in der Hand, in der Richtung brauchen wir es gar nicht erst zu versuchen. Darum also meine Idee hier.«
Mein Vater griff sich ans Ohr und schaltete seine Hörhilfe ein.
»Dieses Simulacrum hier. Die Edwin-M.-Stanton-Maschine. Es ist, als wäre Stanton heute Abend leibhaftig hier, um mit uns zu diskutieren. Das könnte man wunderbar in Schulen einsetzen, für Lehrzwecke. Aber das ist noch gar nichts – ich hatte das zunächst im Sinn, aber jetzt kommt erst der richtige Knüller. Wir gehen zu Präsident Mendoza und schlagen ihm vor, den Krieg – Krieg generell – abzuschaffen und durch einen Festakt zum, sagen wir, 125. Jubiläum des Amerikanischen Bürgerkriegs zu ersetzen. Und die Rosen-Fabrik liefert dafür sämtliche Teilnehmer, Simulacra von allen: Lincoln, Stanton, Jeff Davis, Robert E. Lee, Longstreet und als Soldaten ungefähr drei Millionen einfache Modelle, die wir ständig auf Vorrat halten. Und die Schlachten werden richtig gekämpft, mit richtigen Toten, die Simulacra werden zu Klump geschossen, anstatt nur eine billige Nummer abzuliefern wie irgendwelche Collegeschüler, die Shakespeare aufführen. Versteht ihr, worauf ich hinauswill? Seht ihr, was das für Potenzial hat?«
Wir schwiegen alle. Ja, dachte ich, das hat durchaus Potenzial.
»In fünf Jahren könnten wir so groß wie General Dynamics sein«, fügte Maury mit stolzgeschwellter Brust hinzu.
Mein Vater sah ihn nachdenklich an und zog an seiner Zigarre. »Ich weiß nicht, Maurice. Ich weiß nicht.« Er schüttelte den Kopf.
»Wieso nicht? Was stimmt denn daran nicht?«
»Vielleicht, dass du dich von den Zeitläufen hast mitreißen lassen.« Die Stimme meines Vaters klang erschöpft. Er seufzte. »Oder werde ich langsam alt?«
»Ja, du wirst alt!« Maury war plötzlich ganz rot im Gesicht.
»Gut möglich.« Mein Vater war einen Moment lang still, dann setzte er sich auf und sagte: »Nein, deine Idee ist zu… ehrgeizig, Maurice. Ich bin kein auscher Godel, und du auch nicht.«
»Jetzt komm mir nicht wieder mit deinem Jiddisch.«
»Wir sind keine schwerreichen Leute, meine ich. Wir müssen aufpassen, dass wir uns nicht übernehmen.«
»Na gut, wenn euch die Idee nicht zusagt… Aber ich habe schon zu viel hineingesteckt, ich mache weiter. Ich habe in der Vergangenheit eine Menge guter Ideen gehabt, die wir umgesetzt haben, und das ist bis jetzt die beste. So sind die Zeiten nun mal, Jerome. Wir müssen etwas unternehmen.«
Betrübt, in sich versunken, rauchte mein Vater seine Zigarre weiter.
Drei
Maury, der nach wie vor hoffte, mein Vater würde sich überzeugen lassen, ließ die Stanton dort – in Kommission, wenn man so will –, und wir fuhren zurück nach Ontario. Inzwischen war es fast Mitternacht, und da die mangelnde Begeisterung meines Vaters uns beide bedrückte, lud Maury mich ein, bei ihm zu übernachten – was ich nur allzu gerne annahm.
Als wir bei seinem Haus ankamen, stießen wir auf seine Tochter Pris, von der ich angenommen hatte, dass sie immer noch in der Kasanin-Klinik in Kansas City war, in der Obhut des Federal Bureau of Mental Health. Pris stand, wie ich von Maury wusste, seit ihrem dritten Jahr in der Highschool unter der Vormundschaft des Staates; Tests, die in den öffentlichen Schulen routinemäßig durchgeführt wurden, hatten ihre »Problemdynamik« ergeben, wie es die Psychiater heutzutage nennen – anders ausgedrückt, ihren schizophrenen Zustand.
»Sie wird dich aufmuntern«, sagte Maury, als er meine Zögerlichkeit bemerkte. »Und Aufmunterung ist genau das, was wir beide brauchen. Sie ist ganz schön groß geworden, seit du sie das letzte Mal gesehen hast. Sie ist kein Kind mehr. Komm rein.« Er griff meinen Arm und zog mich ins Haus.
Sie saß im Wohnzimmer auf dem Fußboden. Sie trug pinkfarbene Sporthosen, ihre Haare waren kurz geschnitten, und sie hatte abgenommen. Um sie herum lagen lauter bunte Kacheln, die sie mit einer großen Zange in unregelmäßige Scherben zerbrach.
»Komm, sieh dir das Badezimmer an«, sagte sie und sprang auf. Ich folgte ihr misstrauisch.
Sie hatte alle möglichen Seeungeheuer und Fische an die Badezimmerwände gemalt. Sogar eine Meerjungfrau, die rote Mosaiksteine als Brüste besaß, jeweils mit einem hellen Stein in der Mitte. Der Anblick war abstoßend und faszinierend zugleich.
»Warum nicht gleich kleine Glühbirnen als Nippel nehmen?«, fragte ich. »Wenn jemand zum Pinkeln reinkommt und das Licht anmacht, leuchten sie auf und weisen ihm den Weg.«
Es bestand kein Zweifel daran, dass die jahrelange Beschäftigungstherapie in Kansas City sie in diesen Mosaikrausch getrieben hatte; die Psycholeute standen auf alles, was kreativ war. Vater Staat hatte buchstäblich Zehntausende von Patienten in seinen übers Land verteilten Kliniken stecken, die alle eifrig webten oder malten oder tanzten oder Schmuck herstellten oder Bücher banden oder Theaterkostüme nähten. Und diese Patienten waren dort nicht freiwillig, sondern von Gesetzes wegen. Wie Pris waren viele von ihnen während der Pubertät auffällig geworden, die Zeit, in der Psychosen dazu neigten, auszubrechen.
Offenbar ging es Pris jetzt besser, sonst hätten sie sie wohl kaum hinausgelassen. Nur dass sie mir immer noch nicht normal oder natürlich vorkam. Als wir zurück ins Wohnzimmer gingen, sah ich sie mir genauer an; ihr kleines, herzförmiges Gesicht, die schwarzen, mit einem Haarreif zurückgehaltenen Haare, der Harlekin-Effekt, den sie ihrem seltsamen Make-up verdankte, die Augen schwarz umrandet, der Lippenstift fast schon lila. Es ließ sie unwirklich und puppenhaft erscheinen; irgendwo hinter der Maske, die sie aus ihrem Gesicht gemacht hatte, war sie verlorengegangen. Und ihre Magerkeit setzte dem Effekt noch die Krone auf: Sie sah aus wie eine auf merkwürdige Weise animierte Figur aus einem Totentanz. Das kam vermutlich nicht von der üblichen Aufnahme von fester und flüssiger Nahrung – vielleicht kaute sie nur Walnussschalen. Aber irgendwie sah sie auch gut aus, nur ein bisschen extravagant, um es milde auszudrücken. Insgesamt sah sie allerdings weniger normal aus als die Stanton.
»Schatz«, sagte Maury zu ihr, »wir haben die Edwin M. Stanton drüben bei Louis’ Vater gelassen.«
Sie blickte auf. »Abgeschaltet?« In ihren Augen war ein wildes Feuer, das mich zugleich entsetzte und beeindruckte.
»Pris«, sagte ich, »die Ärzte haben ja wirklich ganze Arbeit geleistet. Was für eine gut aussehende Frau aus dir geworden ist, jetzt wo du erwachsen und wieder draußen bist.«
»Danke«, erwiderte sie ohne jeden Gefühlsausdruck. Ihr Tonfall war schon früher immer völlig flach gewesen, ganz egal in welcher Situation, sogar während schwerer Krisen. Und dabei war es geblieben.
Ich wandte mich Maury zu. »Uff, ich bin ganz schön geschafft.«
Wir klappten das Bett im Gästezimmer auseinander, warfen Laken und Decken drauf und ein Kissen. Pris machte keine Anstalten, uns zu helfen; sie blieb im Wohnzimmer und zerschnitt Kacheln.