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In meinem zweiundfünfzigsten Wachtraum bekam ich endlich meinen Sohn zu Gesicht, ein gesundes, schönes Baby, das Pris’ Augen und meine Haare hatte. Wir saßen im Wohnzimmer – Pris gab ihm gerade die Flasche –, und es war, als hätten mich meine ganzen Anspannungen, meine ganzen Ängste und Sorgen, endlich verlassen.

»Diese blöden Dinger.« Wütend schüttelte Pris die Flasche. »Sie fallen zusammen, wenn er trinkt. Das muss am Sterilisieren liegen.«

Ich trottete in die Küche, um eine frische Flasche aus dem Sterilisator zu holen.

»Wie lautet sein Name, Schatz?«, fragte ich, als ich zurückkam.

»Wie sein Name lautet?« Pris sah mich fassungslos an. »Bist du noch ganz dicht, Louis? Du willst allen Ernstes wissen, wie der Name deines Kindes lautet? Rosen natürlich, wie denn sonst?«

Ich konnte nur dümmlich lächeln. »Vergib mir.«

Sie seufzte. »Na ja, ich bin es ja gewohnt.«

Aber wie heißt er denn jetzt?, fragte ich mich. Nun, vielleicht erfahre ich es beim nächsten Mal, und wenn nicht, dann vielleicht beim übernächsten Mal…

»Charles«, sagte Pris leise zu dem Baby. »Hast du Pipi gemacht?«

Charles also. Ich war froh – es war ein guter Name.

Vielleicht hatte ich ihn ausgesucht, ja, er klang nach einem Namen, den ich ausgesucht haben könnte.

An diesem Tag eilte ich nach meinem Wachtraum gerade die Treppe zum Gruppenraum hinunter, als ich eine Reihe von Patientinnen erblickte, die durch eine Tür in den Frauentrakt des Gebäudes gingen. Eine von ihnen hatte kurze schwarze Haare und war viel schlanker und kleiner als die anderen Patientinnen um sie herum; sie sahen wie aufgeblasene Ballons aus im Vergleich zu ihr. Ist das Pris?, fragte ich mich und blieb stehen. Bitte dreh dich um, bettelte ich und ließ ihren Rücken nicht aus den Augen.

Als sie durch die Tür ging, wandte sie sich für einen Moment um. Ich sah die Stupsnase, die prüfenden grauen Augen – es war Pris!

»Pris«, rief ich und winkte mit den Armen.

Sie starrte mich an, mit zusammengekniffenen Augen und schmalen Lippen. Dann lächelte sie, ein wenig nur.

Du bist wieder hier, in der Kasanin-Klinik, sagte ich mir. Und das ist keine Phantasie, kein Wachtraum, ob nun kontrolliert oder nicht; ich habe dich gefunden, in der wirklichen Welt, der äußeren Welt, die kein Produkt einer regressiven Libido oder eines Medikaments ist. Seit dem Abend in Seattle, als du dem Johnny-Booth-Simulacrum eins mit dem Stöckelschuh verpasst hast, habe ich dich nicht mehr gesehen. Wie lange ist das schon her? Wie viel habe ich seitdem erlebt und getan – in einem Vakuum getan, ohne dich, ohne die authentische, wirkliche Pris. Zufrieden mit einem bloßen Phantom… Gott sei Dank, ich habe dich gefunden. Ich wusste, dass ich dich eines Tages finden würde.

Ich ging nicht zur Gruppentherapie, sondern blieb dort auf dem Flur und wartete.

Schließlich, Stunden später, kam sie durch die Tür direkt auf mich zu, das Gesicht ganz ruhig, ein amüsiertes Funkeln in den Augen.

»Hey«, sagte ich.

»Also haben sie dich gekriegt, Louis Rosen. Du bist schließlich auch schizophren geworden. Das überrascht mich nicht.«

»Ich bin schon seit Monaten hier.«

»Und? Setzt schon die Heilung ein?«

»Ja. Glaube schon. Die machen jeden Tag einen kontrollierten Wachtraum mit mir, und ich gehe immer zu dir, Pris, jedes Mal. Wir sind verheiratet und haben ein Kind namens Charles. Ich glaube, wir leben in Oakland.«

»Oakland?« Sie kräuselte die Nase. »Manche Gegenden von Oakland sind nett, aber manche auch grässlich.« Sie ging weiter den Flur entlang. »War nett, dich zu sehen, Louis. Vielleicht laufen wir uns wieder einmal über den Weg.«

»Pris«, rief ich voller Schmerz. »Komm zurück!«

Aber sie ging weiter und war bald am Ende des Flurs verschwunden.

Als ich sie das nächste Mal in meinem Wachtraum sah, war sie definitiv älter. Ihre Figur war rundlicher, und sie hatte tiefe Schatten unter den Augen. Wir standen zusammen in der Küche; Pris spülte und ich trocknete ab. Im grellen Licht der Deckenbeleuchtung sah ihre Haut trocken aus, mit feinen, winzigen Fältchen überall. Sie trug kein Make-up. Vor allem ihre Haare hatten sich verändert; sie waren nicht mehr schwarz, sondern rötlich braun und sehr hübsch. Ich berührte sie. Sie fühlten sich angenehm an.

»Pris, ich habe dich gestern auf dem Flur getroffen. Hier, wo ich bin – in der Kasanin.«

»Schön für dich.«

»War es real? Realer als das hier?« Im Wohnzimmer sah ich Charles vor dem 3-D-Fernseher sitzen. »Erinnerst du dich an diese Begegnung? War sie für dich so real wie für mich? Ist das hier gerade real für dich? Bitte sag es mir, ich verstehe es nicht mehr.«

Sie kratzte an einer Bratpfanne herum. »Kannst du das Leben nicht einmal so nehmen, wie es kommt, Louis? Musst du immer herumphilosophieren? Du führst dich auf wie ein Schuljunge. Da muss man sich ja fragen, ob du je erwachsen wirst.«

»Ich weiß bloß einfach nicht mehr, welchen Weg ich gehen soll.« Ein Gefühl von Einsamkeit überkam mich, doch ich trocknete weiter das Geschirr ab.

»Nimm mich, wo du mich findest. Wie du mich findest. Sei damit zufrieden. Stell keine Fragen.«

»Ja, das werde ich. Ich versuche es jedenfalls.«

Als ich aus dem Wachtraum kam, sagte Doktor Shedd: »Sie irren sich, Mr. Rosen. Sie können Miss Frauenzimmer hier in der Kasanin nicht über den Weg gelaufen sein. Ich habe die Patientenkartei überprüft und niemanden mit diesem Namen gefunden. Ich fürchte, die Begegnung auf dem Gang war ein Rückfall in die Psychose. Wir scheinen keine so vollständige Katharsis Ihrer libidinösen Triebe zu erreichen, wie wir gedacht haben. Vielleicht sollten wir die Dauer der täglichen kontrollierten Regressionen verlängern.«

Ich nickte. Aber ich glaubte ihm nicht – ich wusste, dass das dort auf dem Gang wirklich Pris gewesen war, keine schizophrene Phantasie.

In der folgenden Woche blickte ich durch das Fenster des Solariums nach unten in den Innenhof – und sah, wie sie dort mit ein paar Frauen Volleyball spielte, alle in hellblauen Sportsachen.

Sie sah mich nicht; sie war auf das Spiel konzentriert. Eine Weile stand ich da und genoss ihren Anblick… dann sprang der Ball vom Spielfeld und kullerte auf das Gebäude zu. Pris lief ihm nach. Als sie sich bückte und ihn aufhob, sah ich ihren Namen; er war in bunten Blockbuchstaben auf ihr Trikot gestickt:

ROCK, PRIS

Das erklärte es: Sie wurde in der Kasanin-Klinik unter dem Namen ihres Vaters geführt. Also hatte Doktor Shedd sie auch nicht in der Kartei finden können; er hatte unter ›Frauenzimmer‹ nachgesehen.

Ich werde es ihm nicht verraten, sagte ich mir; ich werde aufpassen, dass ich es während meiner Wachträume nicht erwähne. Auf diese Weise wird er es nie erfahren, und ich kann vielleicht irgendwann noch einmal mit ihr reden.

Und dann dachte ich: Vielleicht ist das alles Shedds Absicht, vielleicht ist es eine Technik, mich aus den Wachträumen zurück in die wirkliche Welt zu holen. Weil diese paar Blicke auf die wirkliche Pris mir mehr bedeuten als alle Wachträume zusammen. Das ist alles Bestandteil der Therapie, und es funktioniert.

Ich war mir nicht sicher, ob mir das gefiel oder nicht.

Nach meinem einhundertzwanzigsten kontrollierten Wachtraum gelang es mir, mit Pris zu reden. Sie kam gerade aus der Caféteria, als ich hineinging. Ich sah sie als Erster; sie war in ein Gespräch mit einer anderen jungen Frau vertieft.

»Pris.« Ich hielt sie auf. »Lass uns bitte ein paar Minuten reden. Sie haben nichts dagegen – es ist Bestandteil der Therapie. Bitte!«

Die andere Frau ging rücksichtsvoll weiter, und ich war mit Pris allein.