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Ich sah sie ungläubig an.

»Maury wäre da gar nicht draufgekommen. Bundy – er ist ein Genie. Voller Inspiration. Aber das ist das Einzige, was er kann, der Rest seines Gehirns ist durch die fortschreitende Hebephrenie völlig hinüber. Ich habe die Stanton entworfen, und er hat sie gebaut. Und sie ist ein Erfolg, du hast sie gesehen. Aber ich will es gar nicht als Verdienst angerechnet haben, das habe ich nicht nötig. Es hat Spaß gemacht. Wie das hier.« Sie begann wieder, ihre Kacheln zu zerschneiden. »Kreative Arbeit.«

»Und Maury, was hat der getan? Dem Ding die Schuhe zugebunden?«

»Maury hat das Ganze organisiert. Er hat dafür gesorgt, dass wir alles hatten, was wir brauchten.«

Ich bekam das entsetzliche Gefühl, dass das, was sie sagte, der Wahrheit entsprach. Klar, ich konnte zur Sicherheit Maury fragen. Aber ich hatte nicht den Eindruck, dass dieses Mädchen überhaupt wusste, wie man log; sie war praktisch das genaue Gegenteil ihres Vaters. Vielleicht schlug sie ja nach ihrer Mutter, die ich nie kennengelernt hatte. Die Familie war zerbrochen, lange bevor ich Maury kennengelernt hatte. »Und? Wie läuft deine ambulante Psychoanalyse so?«

»Gut. Und deine?«

»Ich brauche keine.«

»Da liegst du falsch. Du bist sehr krank, genau wie ich.« Sie lächelte zu mir herauf. »Stell dich den Tatsachen.«

»Würdest du mit diesem Geknackse aufhören, damit ich schlafen kann?«

»Nein. Ich will den Kraken heute Nacht noch fertig kriegen.«

»Wenn ich nicht schlafen kann, fall ich irgendwann um.«

»Ja und?«

»Bitte!«

»Noch zwei Stunden.«

»Sind die alle wie du? Die Leute, die aus den staatlichen Kliniken kommen? Die jungen Leute, die wieder auf Kurs gebracht wurden? Kein Wunder, dass wir Probleme mit dem Orgelabsatz haben.«

»Organabsatz? Was für Organe wollt ihr denn absetzen? Ich für meinen Teil habe alle Organe, die ich brauche.«

»Orgeln, nicht Organe. Elektronische Orgeln. Obwohl, wer weiß. Vielleicht verkaufen wir ja bald auch elektronische Organe.«

»Ich brauche keine, ich habe welche aus Fleisch und Blut.«

»Besser, sie wären elektronisch und du würdest ins Bett gehen und deinen Gast schlafen lassen.«

»Du bist nicht mein Gast. Bloß der von meinem Vater. Und komm mir nicht mit ins Bett gehen – oder ich sag meinem Vater, dass du mich gefragt hast, ob ich mit dir schlafen will, und das war’s dann mit MASA Associates und deiner Karriere. Du wirst dir wünschen, nie irgendeine Orgel gesehen zu haben, elektronisch oder nicht. Also geh brav in die Heia und sei froh, dass du keine größeren Sorgen hast als nicht einschlafen zu können.« Sie fuhr fort, Kacheln zu zerbrechen.

Einen Moment lang stand ich da und fragte mich, was ich tun sollte. Schließlich wandte ich mich ab und ging – ohne dass mir eine schlagfertige Entgegnung eingefallen wäre – zurück in mein Zimmer. Mein Gott, dachte ich. Gegen die ist diese Stanton-Kiste reinste Wärme und Freundlichkeit.

Und doch hatte sie mir keine Feindseligkeit entgegengebracht. Sie hatte einfach nur kein Gespür dafür, was sie so von sich gab, ob sie etwas Verletzendes gesagt hatte – sie machte eben mit ihrer Arbeit weiter. Aus ihrer Sicht war nichts weiter geschehen, ich spielte keine Rolle für sie.

Und wenn sie mich nun wirklich nicht leiden konnte… Aber war das überhaupt möglich? Hatte dieses Wort für sie irgendeine Bedeutung? Vielleicht wäre das besser, dachte ich, während ich die Zimmertür abschloss. Es wäre menschlicher, nachvollziehbarer, wenn sie eine Abneigung gegen mich gehabt hätte. Aber einfach weggescheucht zu werden, nur damit sie weitermachen, ihre Arbeit beenden konnte – als wäre ich irgendein Hemmnis, ein störendes Element, nichts weiter.

Vermutlich konnte sie nur die Oberfläche der Menschen wahrnehmen, entschied ich. War sich ihrer nur bewusst, soweit es ihre einschränkende oder nicht einschränkende Wirkung auf sie betraf… Mit solchen Gedanken lag ich da, das eine Ohr ins Kissen gepresst, das andere mit dem Arm abgedeckt, um das Geknackse zu dämpfen, die endlose Folge von Schnitten, die sich bis in alle Ewigkeit fortsetzte.

Mir war klar, warum sie sich zu Sam K. Barrows hingezogen fühlte. Zwei vom gleichen Schlag, oder eher aus der gleichen Werkstatt. Im Fernsehen und auch jetzt wieder, beim Blick auf die Zeitschrift – es war, als wäre Barrows der obere Teil seines Kopfes geöffnet und das Gehirn durch ein Steuersystem oder eine Rückkopplungsschaltung aus Selenoiden und Relais ersetzt worden, die ferngesteuert wurde. Oder vielleicht saß dort oben auch irgendetwas an den Kontrollen, betätigte mit raffinierten Bewegungen die Schalter.

Und wie merkwürdig es doch war, dass diese junge Frau mitgeholfen hatte, das fast schon liebenswerte Simulacrum zu erschaffen, als wäre sie sich auf einer unterbewussten Ebene des Defizits in ihrem Inneren bewusst, der leeren, abgestorbenen Mitte, und würde es fleißig kompensieren.

Am nächsten Morgen frühstückten Maury und ich in einem kleinen Café in der Nähe der Firma. Als wir einander in der Essnische gegenübersaßen, fragte ich: »Wie krank ist deine Tochter eigentlich, Maury? Wenn sie immer noch unter der Vormundschaft des FBMH steht, muss sie ja…«

»Ein Zustand wie der ihre lässt sich nicht heilen.«

Maury nippte an seinem Orangensaft. »Es ist ein lebenslanger Prozess, der immer wieder schwierige und weniger schwierige Phasen durchläuft.«

»Würde sie immer noch als Schizophrene unter den McHeston Act fallen, wenn man heute mit ihr den Benjamin-Sprichworttest durchführen würde?«

»Die würden nicht mehr den Benjamin-Test nehmen, sondern diesen sowjetischen Test, diese bunten Bauklötze von Vygotsky und Luria. Dir ist gar nicht klar, wie früh sie von der Norm abgewichen ist, falls man überhaupt von jemandem sagen kann, er sei Bestandteil einer ›Norm‹.«

»Ich hab den Benjamin-Test in der Schule damals bestanden.« Der Test war seit 1975 – in manchen Bundesstaaten sogar noch früher – die unerlässliche Voraussetzung, um als ›normal‹ zu gelten.

»Also nach dem zu urteilen, was sie mir in der Klinik erzählt haben, als ich sie abgeholt habe, würde man sie im Moment nicht als schizophren einstufen. Das war sie praktisch nur drei Jahre lang. Sie haben ihren Zustand zurückgedreht auf vor diesem Zeitpunkt, auf das Integrationsvermögen, das sie ungefähr mit zwölf gehabt hat. Und das ist ein nicht-psychotischer Zustand und fällt somit nicht unter den McHeston Act. Also darf sie frei herumlaufen.«

»Dann ist sie also eine Neurotikerin.«

»Sie nennen es atypische Entwicklung oder latente beziehungsweise Borderline-Psychose. Sie kann sich zu einer Neurose entwickeln, zu einer Zwangsneurose oder zu voller Schizophrenie aufblühen, wie es bei Pris während ihres dritten Highschool-Jahres passiert ist.«

Während er sein Frühstück aß, erzählte mir Maury von ihrer Entwicklung. Ursprünglich war sie ein sehr zurückhaltendes Kind gewesen, also das, was das FBMH verkapselt oder introvertiert nennt. Sie hielt sich abseits, hatte alle möglichen Geheimnisse, etwa ein Tagebuch und kleine Verstecke im Garten. Dann, mit ungefähr neun Jahren, begann sie unter Angstvorstellungen zu leiden, so massiv, dass sie einen Großteil der Nacht aufblieb und durchs Haus tigerte. Mit elf entwickelte sie großes Interesse an Naturwissenschaften; sie besaß einen Chemiebaukasten und tat nach der Schule nichts anderes, als damit herumzuexperimentieren. Sie hatte wenige bis gar keine Freunde und schien auch keine zu wollen.

Doch die richtigen Probleme kamen erst in der Highschool. Sie hatte Angst, große Gebäude zu betreten, also auch die Schule, und fürchtete sich vor dem Busfahren. Wenn sich die Türen des Busses schlossen, hatte sie das Gefühl zu ersticken. Und sie konnte in der Öffentlichkeit nicht essen. Selbst wenn ihr nur eine einzige Person zusah, musste sie ihr Essen schon in irgendeine Ecke tragen wie ein wildes Tier. Etwa zur gleichen Zeit war sie zwanghaft geworden: Alles hatte ganz genau an seiner Stelle zu sein. Sie streifte den ganzen Tag ruhelos durchs Haus und stellte sicher, dass alles sauber war. Sie wusch sich die Hände manchmal zehn-, fünfzehnmal hintereinander.