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Die Sachen, die er an sich nahm, verwahrte er in einem schmalen Spalt im Brunnen, etwa drei Handbreit unterhalb des Randes. Wenn er sich über die Steinbrüstung beugte, konnte er die Hand in das Versteck schieben, und das Wasser tief unten warf seinen Atem zurück wie ein Echo. Zu seinen Besitztümern zählten eine blau-weiße Tonscherbe, eine Schlangenhaut, die er im Wald gefunden hatte, ein paar Rosenkranzperlen aus echten Rosen, die er Pater John stibitzt hatte, und – für ihn am wichtigsten – seine Steinsammlung.

Alle Jungen in Saint Anthony sammelten Steine. Sie horteten sie wie Kostbarkeiten, so als könnten sie sich durch das Sammeln von Feldspat und Schiefer den Weg in ein neues Leben bahnen. Wenn sie an den richtigen Stellen gruben, fanden sie seltenere Stücke – Quarzbrocken oder Glimmer oder Pfeilspitzen. Diese Schätze waren heiß begehrt und wurden sorgfältig aufbewahrt und getauscht und manchmal, wenn ein Junge adoptiert wurde, auch zurückgelassen.

Nachdem Bruder Joseph an diesem Nachmittag eingenickt war, wurden Williams Steine auf dem Scheunenboden ausgelegt, und die Jungen stritten sich um ihre Verteilung. Dreißig oder vierzig Stück mochten es sein. Steine, die glänzten wie Metall oder braune und schwarze Steifen hatten oder gar welche in den Farben des Sonnenuntergangs, rot und orange. Aber das Prunkstück der Sammlung war ein Wunschstein. Ein hellgrauer Stein mit einem geschlossenen weißen Ring. Einer, der imstande war, einen Wunsch zu erfüllen.

Ren hatte erst einen einzigen solchen Stein gesehen; er hatte Sebastian gehört. Dieser hatte ihn Ren einmal gezeigt, aber anfassen durfte ihn niemand, weil Sebastian befürchtete, der Wunsch könnte dadurch verloren gehen. Er wollte ihn sich, wie er sagte, aufsparen für eine Zeit, in der er in Schwierigkeiten wäre, und als er zur Armee ging, hatte er ihn mitgenommen. Später, als Sebastian vor der Backsteinmauer stand, die das Waisenhaus umgab, die Lippen von der Sonne aufgesprungen, berichtete er Ren durch die Klappe im Tor, dass jemand ihm den Wunschstein gestohlen hatte, während er schlief. »Ich hätte ihn nicht aufheben sollen«, heulte er. »Ich hätte ihn gleich nutzen sollen, als ich ihn in die Finger bekommen habe.«

Die Stimmen der Jungen fingen sich im Gebälk der Scheune und hallten von dort zurück. Ein paar von ihnen hatten den Wunschstein bereits entdeckt. Sobald Williams Steine verteilt würden, hätte Ren seine Chance sicher verpasst. Er rückte näher an die Stelle, wo der Wunschstein lag, heran und schob dabei den Ärmel nach oben. Dann tat er so, als hätte jemand ihn geschubst, warf sich mitten in den Pulk und landete auf allen vieren am Boden; dabei verdeckte er mit dem Stumpf seines linken Arms die rechte Hand. Die anderen stießen ihn beiseite.

»Weg da!«

»Krüppel!«

»Aus dem Weg!«

Während die Jungen sich weiter zankten, zog Ren sich in den hinteren Teil der Scheune zurück, den Stein fest in der Hand. Er öffnete die Faust und betrachtete ihn. Der Wunschstein hatte die Farbe des Regens. Seine Ränder waren glatt. Dort, wo der weiße Ring anfing, spürte Ren die schmale Rinne, und er dachte an all die Dinge, die er sich wünschen würde.

Brom und Ichy flüsterten miteinander, dann verließen sie die Meute und gesellten sich zu Ren. Sie wussten, dass er etwas an sich genommen hatte. Sie waren seine Freunde, aber sie wollten auch ihren Anteil.

»Was hast du da in der Hand?«

»Nichts.«

»Gib her!«

Die anderen Kinder wurden aufmerksam. Erst Edward mit seiner Triefnase, dann Luke und Marcus. Ren wusste, dass ihm nur wenige Augenblicke blieben, ehe sich alle auf ihn stürzten.

Er versetzte Brom einen Hieb mit der Faust, spürte das harte Kinn seines Freundes an den Knöcheln. Dann tauchte er unter Ichys Arm hindurch, stürmte aus der Scheune und rannte, so schnell er konnte, zum Brunnen, in der Hoffnung, ihn rechtzeitig zu erreichen, um den Stein verstecken zu können, und dabei betete er die ganze Zeit, er möge nicht von den Jungen verfolgt werden. Aber sie waren ihm dicht auf den Fersen, allen voraus Brom, der Ren gleich an der Schulter packen würde, und dann war es so weit, und beide fielen zu Boden.

Ichy setzte sich auf Rens Brustkorb, und Brom verdrehte ihm den Arm, bis er die Faust aufmachte. Ren versuchte die beiden mit Tritten abzuschütteln, biss und kratzte, obwohl ihm klar war, dass er verspielt hatte, und spürte, wie ihm der Stein aus der Hand glitt. Die Zwillinge ließen Ren keuchend im Dreck liegen und beugten sich über ihre Beute.

»Ich wünsche mir eine Pfeilspitze«, sagte Ichy.

»Das ist viel zu wenig«, sagte Brom.

»Dann eben Süßigkeiten.«

»Dass sich Bruder John das Genick bricht.«

»Spielzeug.«

»Dass ich beim nächsten Mal ausgewählt werde.«

»Hundert Wünsche statt dem einen.«

Ren hörte seinen Freunden zu. Noch nie hatte er jemanden so gehasst. Der Hass strömte aus seinen Fingerspitzen, und er stürzte sich auf sie und entriss ihnen den Stein. Wenn er den Wunsch nicht haben konnte, sollte ihn auch kein anderer haben. Die Zwillinge packten ihn am Hemd, aber der Hass verlieh ihm Kraft, mehr Kraft, als er je gespürt hatte, und er riss sich los, beugte sich über den Rand des Brunnens und warf den Stein hinein. Kein Laut war zu hören, als er hinabfiel, nur das Echo von Rens Keuchen in der Dunkelheit, und dann verriet ihm ein leises »Plopp«, dass er im Wasser gelandet war.

Kapitel 3

Pater Johns Arbeitszimmer lag im dritten Stock des Klosters. Aus diesem kleinen Raum kamen Anweisungen und Segenswünsche, Angaben für die Portionsgrößen bei Tisch und Regularien fürs Zubettgehen, Gebetslisten, Sündenregister, die turnusmäßige Einteilung des Toilettendienstes und die Geräusche, mit denen diese Richtlinien durchgesetzt wurden. Ren hatte dort dreimal den Rohrstock bekommen, weil er Essen gehortet hatte, sechsmal, weil er nachts sein Bett verlassen hatte, fünfzehnmal, weil er ohne Erlaubnis aufs Dach geklettert war, und siebenundzwanzigmal, weil er geflucht hatte. Er kannte dieses Zimmer gut und war überzeugt, dass Pater John ihn weniger kräftig züchtigte; bei anderen hatte er zentimetertiefe Striemen gesehen.

Pater John zog einen dicken Wälzer aus einem Regal an der Wand: Das Leben der Heiligen. Er ging an den Schreibtisch und begann zu lesen, während Ren in der Ecke stand, ihn beobachtete und wartete. Eine halbe Stunde verging. Manchmal ließ Pater John die Jungen stundenlang warten. Das war jedes Mal noch schlimmer als die eigentliche Strafe.

Ren war auf seine Art gläubig. Für ihn war das so selbstverständlich wie atmen. Im Wald hinter dem Waisenhaus floss ein Bach. Ren hielt gern die Hand ins Wasser, um zu spüren, wie es durch seine Finger rann. Er schaute den Blättern und den Ästchen nach, die den Bach hinuntertrieben, und er spürte, wie die Strömung an seinem Handgelenk zog. Denselben Sog spürte er manchmal auch beim Beten – jenes Gefühl, fortgetragen zu werden in größere Tiefen. Doch nie fand er den Mut, dem nachzugeben. Sobald er den Drang verspürte loszulassen, zog er seine Hand aus dem Wasser.

Pater John blätterte eine Seite in seinem Buch um. Er fuhr mit dem Finger den Falz in der Mitte entlang und las vor: »In Padua versetzte ein junger Mann namens Leonardo in einem Anfall von Zorn seiner Mutter einen Tritt. Danach war er so voller Reue, dass er es dem heiligen Antonius beichtete. Der Heilige sagte dem jungen Mann, er müsse den Teil seiner selbst, der die Sünde begangen hatte, entfernen. Leonardo ging nach Hause und schnitt sich den Fuß ab. Als der heilige Antonius dies hörte, suchte er den verstümmelten Mann auf. Und mit einer einzigen Berührung fügte er den Fuß wieder an.« Pater John klappte das Buch zu, behielt aber einen Finger zwischen den Seiten. »Ich dachte, diese Geschichte interessiert dich vielleicht.«

Ren hatte gelernt, nicht zu antworten. Sein linkes Auge war geschwollen, sein Gesicht dreckverschmiert, nachdem Brom es auf den Erdboden gedrückt hatte. Die Zwillinge hatten ihn an den Haaren gezogen, bis er ihnen verriet, wo er seine Steinsammlung versteckt hatte, und dann waren sie mit all seinen gehorteten Schätzen abgehauen und hatten sich in die Scheune zurückgeschlichen, ehe Bruder Joseph sich wieder regte. Pater John hatte die Rauferei von seinem Arbeitszimmer aus beobachtet und Ren allein am Brunnen angetroffen, blau geschlagen und blutend und heulend über seine verlorenen Schätze.