Am anderen Ende des Schlafsaals der Kleinen weinte ein Junge. Ren horchte kurz und schob sein Buch behutsam unter die Decke. Nach und nach regten sich die anderen Jungen; ein oder zwei murmelten im Halbschlaf. Brom setzte sich auf und rief: »Ruhe!« Ein anderer Junge fluchte. Dann kroch jemand unter seiner Decke hervor. Ren konnte die Schritte auf dem Boden hören. Es kam der Moment, in dem alle Kinder die Luft anhielten, und dann ein lauter, kräftiger Schlag. Das Weinen hörte auf, und die Schritte kehrten zum Bett zurück.
Nun waren alle wach, starrten hinauf ins dunkle Dachgebälk und lauschten. Nachts weinten die Kinder immer abwechselnd. Es war nur eine Frage der Zeit, bis ein anderer Junge anfing. Und wenn dieses leise Schluchzen begann, wusste Ren, dass es Stunden dauern würde, bis er wieder lesen konnte.
Er klappte das Buch zu und schloss die Augen. Er stellte sich den Wunschstein vor, der auf dem Grund des Brunnens lag. Er hatte ihn in der Hand gehalten, wenn auch nur kurz. Ren ballte seine Hand zur Faust und versuchte, sich an seine Form zu erinnern. Er konnte spüren, wie sein Blut unter der Haut pulsierte, fühlte sogar die Wärme des Steins wieder an den Fingerspitzen, und alle nur denkbaren Wünsche lagen deutlich vor ihm. Ren schob seine Hand ins Mondlicht und öffnete langsam die Faust – in der leisen Hoffnung, der Stein könnte wieder da sein. Aber kein Wunder geschah in jener Nacht im Schlafsaal der kleinen Jungen. Da war nur Rens geöffnete Hand, leer und kalt im Dunkeln. Ein paar Reihen weiter begann ein anderer Junge zu weinen, und Ren drückte sein Gesicht ins Kissen. Er war froh, dass er den Stein weggeworfen hatte. Jetzt konnte sich niemand mehr einen Wunsch damit erfüllen.
Kapitel 4
Bruder Peters Unterricht fand jeden Tag im Empfangsraum des Klosters statt. Was den Jungen in diesem Unterricht vermittelt werden sollte, variierte von Fall zu Fall und, wie es schien, je nach Wetter. An Regentagen holte der Ordensbruder Landkarten hervor und sprach darüber, wo was in der Welt lag. Wenn die Sonne schien, rezitierte er Gedichte. Schneite es, zog er einen Abakus aus seinem Pult und erläuterte die Zahlen. Und wenn ein starker Wind blies, tat er gar nichts, sondern blickte unverwandt zum Fenster hinaus auf die schwankenden Bäume.
Die Mönche betrachteten es als ihre Aufgabe, den Kindern ein Mindestmaß an Bildung mit auf den Weg zu geben. Wenigstens so viel Sprachwissen, dass sie die Bibel lesen konnten, und ausreichend Kenntnisse im Rechnen, damit die Protestanten sie nicht übers Ohr hauen konnten. Weshalb man Bruder Peter mit dieser Erziehungsaufgabe betraut hatte, wussten die Jungen nicht, denn mehr als die Hälfte der Zeit legte er nur die Stirn auf den Tisch und achtete nicht weiter auf die Kinder. Viel von dem, was die Jungen gelernt hatten, war von einem zum anderen weitergegeben worden wie eine Krankheit und betraf hauptsächlich Einzelheiten aus der Geschichte Neuenglands: Stationen im amerikanischen Unabhängigkeitskrieg, die Gefechte von Lexington und Concord, die Hexenprozesse von Salem oder das Massaker von Boston.
Heute übten die Jungen das Schreiben und Abschreiben von Psalmen auf winzigen Schiefertafeln, die gemeinsam benutzt wurden. An der Reihe war der Psalm 118, Vers 8: »Es ist besser, auf den Herrn zu vertrauen, als auf Menschen zu bauen.« Bruder Peter hatte gerade seinen Kopf auf den Tisch gelegt, als die Jungen zu tuscheln begannen und zum Fenster hinausdeuteten. Ren sah von den Wörtern auf, die er gerade niedergeschrieben hatte. Ein Fremder überquerte den Hof.
Der Mann trug eine Brille. Er hatte strohfarbenes Haar, das von einem Band zusammengehalten wurde, so dass er aussah wie ein Student. Er trug keinen Hut, hatte aber Stiefel an und einen langen dunklen Mantel mit hochgeschlagenem Kragen, wie ein Kutscher. Bruder Joseph geleitete den Mann zur Priorei, und die Kinder sahen, wie der Fremde einen Moment lang innehielt und sich zur Seite beugte, als bereitete ihm sein Bein Schmerzen. Er war von schmächtiger Statur, und bevor er im Haus verschwand, konnte Ren erkennen, dass seine Hände bleich und schmal waren. Ein Farmer war er nicht.
Eine Viertelstunde später stürmte Bruder Joseph außer Atem ins Klassenzimmer; seine Kutte war vorn voller Flecken. Er ließ seinen Blick über die Jungen wandern und sprach die Worte aus, auf die alle warteten: »Geht zur Statue.«
Ren lief aus dem Zimmer und rannte zum heiligen Antonius, und irgendwie kam es ihm vor, als liefe er seinem Glück hinterher. Wie alle anderen Jungen nahm er seinen Platz in der Reihe ein, und Bruder Joseph schritt sie ab, stopfte Hemden in Hosen und zog Kragen zurecht, während am anderen Ende des Hofs die Tür der Priorei aufging.
Pater John näherte sich den Kindern in derselben beunruhigenden Haltung, wie wenn es ans Prügeln ging. In einer Hand hielt er ein Schriftstück. Die andere hatte er in den Ärmel geschoben, was bedeutete, dass er seine Gerte dabeihatte. Der Fremde folgte ihm in kurzem Abstand, sein langer Mantel schleifte im Schmutz.
Er war ein junger Mann mit zerfurchtem Gesicht und, im Verhältnis zum Kopf, etwas zu großen Ohren. Als er zur Statue des heiligen Antonius kam, verschränkte er die Arme und lehnte sich an. Über den Rand seiner Brille hinweg betrachtete er die Jungen. Seine Augen waren blau, sommerhimmelblau, die blauesten Augen, die Ren je gesehen hatte.
»Das ist Mister Nab«, sagte Pater John. »Mister Benjamin Nab.« Er warf einen Blick auf das Blatt Papier in seiner Hand und betrachtete dann verwundert den Fremden, der inzwischen auf einem Bein stand und den anderen Fuß in der Luft kreisen ließ.
»Alte Kriegsverletzung«, sagte der Mann. »Wenn es kalt wird, tut sie ein bisschen weh.« Er setzte den Fuß wieder auf den Boden, stampfte einmal auf, noch einmal und verzog dann den Mund zu einem breiten, strahlenden Lächeln. Es war ein gewinnendes Lächeln, das er bewusst erst dem Priester zuwandte und danach den aufgereihten Jungen.
Pater John fing sich und wandte sich wieder dem Schriftstück zu. »Mister Nab sucht seinen Bruder, der als Säugling hierher gebracht wurde. Er sagt, dass er etwa elf Jahre alt sein muss – stimmt das?«
»Ich glaube schon. Obwohl es so lange her ist, dass ich mich nicht genau erinnern kann.«
»Nun denn«, sagte Pater John und machte eine kurze Pause. Ren sah ihm an, dass er allmählich die Geduld verlor. »Kommt Euch einer dieser Jungen bekannt vor?«
Benjamin Nab trat vor und musterte jedes einzelne Kind eingehend. Offenbar hielt er nach etwas Bestimmtem Ausschau, doch wonach, ließ sich schwer sagen, denn bei jedem Jungen suchte er an einer anderen Stelle. Er packte sie am Kinn und drehte ihre Gesichter ins Licht. Er betastete ihren Hals, maß die Länge ihrer Augenbrauen mit dem Finger ab und hob zweimal eine braune Haarsträhne an seine Nase.
»Zu klein«, sagte er zu einem Jungen.
»Zu groß«, sagte er zu einem anderen.
»Zeig mir deine Zunge.«
Marcus streckte die Zunge ins Sonnenlicht, und der Mann betrachtete sie; dann schüttelte er wieder den Kopf.
Ren merkte, wie die Zwillinge neben ihm nervös wurden. Brom hatte die Hände zu Fäusten geballt. Ichy richtete seine Füße kerzengerade aus. Aber Benjamin Nab nahm sich gar nicht die Zeit, sie genauer zu betrachten. Er ging weiter, als wüsste er um ihr Unglück und hätte Angst, sich damit anzustecken. Dann kam er zu Ren.
Benjamin Nab knuffte den Jungen in die Schulter. Es war ein kräftiger Stoß, als hätte er Ren beim Schlafen ertappt.
»Du siehst aus wie ein kleiner Mann.«
Es hörte sich an wie ein Kompliment, aber Ren befürchtete, es könnte anders gemeint sein. Er wusste, dass er kleiner war als die anderen Jungen. Der Mann trat vor und ließ seine blauen Augen Zentimeter für Zentimeter über Rens Gesicht, seinen Hals und die Schultern wandern. Ren wartete; sein Herz hämmerte in der Brust. Er stand kerzengerade da. Als der Mann seinen Oberarm nahm und drückte, gab Ren sich Mühe, die Muskeln anzuspannen. Dann trat plötzlich Stille ein, und Ren wusste, dass der Mann die fehlende Hand bemerkt hatte.