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Ren hob den Kopf. Zuerst dachte er, dass eine Maus in die Falle gegangen war und mit den Krallen am Holz scharrte. Aber dafür war das Quieken zu laut, und außerdem kam es vom Hintereingang.

»Was ist das?«, fragte Dolly.

»Keine Ahnung.« Ren warf die Decke zur Seite und schlich sich nach hinten. Jetzt hörte er jemanden schlurfen, dann das leise Scheppern von Metall an der Hintertür. Ren schaute gebannt auf den Türknauf. Etwas klimperte, und aus dem Schlüsselloch fiel eine kleine Hufschmiedfeile und klirrte auf die Steinplatten.

Ren lief zurück in die Küche, machte die Tür hinter sich zu und stemmte sich dagegen. Dolly stand neben der Feuerstelle, die Hände bereit zum Zupacken. »Das Fenster!«, flüsterte Ren. Er nahm die gepackte Tasche an sich. Er kletterte auf die Anrichte und drückte sich an die kalte Fensterscheibe. Dahinter sah er ein paar Hutmänner, die sich um die Hintertür drängten, und jetzt öffneten sie die Tür und drangen in die Pension ein.

Ren suchte verzweifelt nach den Fensterriegeln – zwei kleinen Metallhaken – und zerrte daran. Er warf sich mit seinem ganzen Gewicht gegen die Scheibe, und dann spürte er Luft, herrliche kalte Luft auf seiner Hand und im Gesicht.

Jemand packte ihn an den Beinen und riss ihn wieder zurück. Er trat um sich, aber der Zylinder hielt ihn fest. Drei andere Hutmänner übernahmen Dolly. Sie schlangen ihm Stricke um Arme und Hals und versuchten ihn zu Boden zu ringen. Einen hatte Dolly an der Kehle gepackt, und die anderen zwei schlugen mit Stecken auf ihn ein und warfen sich mit aller Wucht auf ihn. Dann trat Pilot durch die Tür.

Er klatschte in die Hände, als wollte er Beifall spenden, und Dolly und Ren waren so perplex, dass sie aufhörten, sich zu wehren. Mit seinen unverhältnismäßig langen Armen sah der Mann nach wie vor aus wie eine Vogelscheuche, und mit einem davon fegte er über den Küchentisch, so dass sämtliche Teller und Abfälle und Schüsseln mit Essensresten auf den Boden flogen. »Setzt ihn da rauf.«

Der Zylinder trat vor und warf Ren auf den Tisch.

Pilot beugte sich über den Jungen. »Du hast deinen Onkel sehr enttäuscht. Und das, nachdem er dir so viel geschenkt hat.«

»Ich wollte nichts davon«, sagte Ren.

Pilot zog einen Rupfensack unter seinem Mantel hervor; genau die gleichen hatten Benjamin und Tom auf dem Friedhof verwendet. »Wie auch immer, er ist noch nicht fertig mit dir.«

Er gab den Sack dem Mann mit der Melone, und der steckte Rens Beine hinein. Ren setzte sich gegen die Männer zur Wehr, bis seine Arme ganz verdreht und taub waren. Jetzt reichte ihm der Sack bis zur Taille. Die Melone und der Zylinder packten ihn an den Schultern. Sie stopften seinen restlichen Körper hinein und zogen ihm den Sack über den Kopf.

Auf einmal krachte es gewaltig am anderen Ende des Raums, als würde das ganze Haus vom Keller bis zur Mansarde hochgehoben und hin und her geschüttelt. Der Küchentisch neigte sich zur Seite, schwankte kurz auf zwei Beinen, ehe er zu Boden donnerte, und Ren fiel ebenfalls herunter, auf einen Haufen Kleider – oder war es ein Körper? –, hörte dann jemanden fluchen – es war wirklich ein Körper –, roch den Atem des Mannes unter sich. Jemand hielt den Sack fest, und Ren riss ihn mit den Fingern – die spürte er noch – auf, um sich zu befreien.

Dolly zog ihn vom Boden hoch. Im Nu hatte er ihn aus dem Sack befreit. Ren sah Pilot am Türpfosten lehnen, den Mund voller Blut; sein rechter Arm baumelte von der Schulter herab, mit dem linken versuchte er mühsam, eine Pistole aus dem Mantel zu ziehen. Der Strohhut war tot. Die Melone und der Wachmann lagen verrenkt am Boden. Dolly schleuderte den leeren Sack auf den letzten Mann, der noch aufrecht stand – den Zylinder, der jetzt einen Stuhl über seinem Kopf schwang –, dann schob er Ren zum Kamin.

»Rauf mit dir«, sagte er. »Schau, dass du wegkommst.«

Der Zylinder schleuderte den Stuhl. Er zerbrach an Dollys Rücken, während dieser sich umdrehte, um Ren mit seinem Körper zu schützen. »Jetzt«, sagte Dolly, gab Ren noch einen Schubs, und dann packte er den Schürhaken und knallte ihn dem Zylinder ins Gesicht, bis Blut über seine Hände strömte.

Ren stemmte einen Fuß gegen die Rückwand der Feuerstelle. Über die Schulter hinweg sah er Pilot mit der Pistole in der Hand. Er wusste, dass er sich in Bewegung setzen musste, fand aber keinen Halt im Kamin, weil seine Füße an den Ziegeln abrutschten. Und dann war Dolly direkt unter ihm, hob ihn hoch und schob ihn in den Schornstein hinauf, schob mit aller Kraft, und der Ruß rieselte auf sie beide hinunter. Dolly hatte Rens Fuß in der Hand, und an diesem Fuß stemmte er ihn hoch, und Ren erwischte einen Mauervorsprung, an dem er sich festhalten konnte, und zog sich hinauf, zwei Zentimeter, dann noch zwei, bis sein Gewicht sich von Dollys Hand löste.

Die Ziegel ringsum waren noch warm, der Staub brannte ihm in den Augen. Der Kamin war so eng, dass er kaum hinunterschauen konnte. Doch immerhin schaffte er es, das Kinn so weit an die Brust zu ziehen, dass er seinen Freund unten am Boden sehen konnte, der durch die Dunkelheit zu ihm hinaufschaute.

Und dann gab es eine Explosion. Die Wände vibrierten von dem Knall. Und dann kam noch eine. Und noch eine. Und noch eine. Ren spürte, wie alle Luft aus seinem Körper entwich, nach oben in die Nacht stieg wie Rauch, und dann, ebenso rasch, als ein kalter Luftstoß zurückkehrte, der seine Finger gefühllos werden und ihn bis in die Knochen frösteln ließ und seinen Körper daran erinnerte, dass er nur ein Körper war und auf vielerlei Art sterben konnte, und die erste bestand darin, den Schornstein hinunterzufallen, und die zweite, erschossen zu werden.

Er stemmte die Füße gegen die bröckelnden Mauern und hielt sich fest. Seine Hand war schweißnass und rutschte ab. Ren kletterte, fiel, kletterte wieder. Und dann wurde von oben ein Seil heruntergelassen, und er hielt sich daran fest und drückte sich mit den Beinen von den Wänden ab, und sein Körper wurde durch den Rauchfang nach oben gezogen, während ihm Staub und Ruß ins Gesicht rieselten. Er krallte die Finger um einen Knoten im Seil, und dann war er oben, spürte den Wind auf seinem Gesicht, und der Zwerg packte ihn an den Schultern und zog ihn hinaus aufs Dach.

Ren wirbelte herum, umklammerte den Rand des Kamins und spähte hinunter in das gähnende Loch. »Dolly!«, schrie er. »Dolly!« Er wartete auf eine Antwort. Aber das einzige Geräusch, das zurückkam, war der Wind, der mit leisem, hohlem Gewinsel über den Rand des Schornsteins streifte.

»Er ist auf dem Dach!«, rief einer der Männer von unten. Ren zog den Kopf zurück, und der Zwerg trat neben ihn. Seine Haare waren zerzaust. Die Knöpfe an seiner winzigen Jacke offen.

»In einer Minute sind sie hier oben.« Der Zwerg lief ans Ende des Dachs, kletterte auf den hochstehenden Sims und sprang. Ren schrie auf. Auf allen vieren kroch er hastig zu dem Sims hinüber. Dort angelangt, stellte er fest, dass der kleine Mann etwa drei Meter weiter unten auf dem Dach des Nachbarhauses gelandet war. Der Zwerg legte den Kopf schief und winkte ihm. »Los, komm schon!«

Ren konnte die Hutmänner hinter sich hören. Sie hatten eine Leiter entdeckt, die jetzt an der Seitenwand der Pension entlangschrappte. Er schloss die Augen. Und dann sprang er.

Die angrenzenden Häuser waren aneinandergebaut, ihre Dächer nur durch hochgezogene Steinmauern voneinander getrennt. Der Zwerg sauste darüber hinweg, und Ren lief hinterher. Mehrere Männer folgten ihnen unten auf der Straße, und zwei weitere hatten inzwischen das Dach der Pension erreicht. Der kleine Mann witschte hinter Kamine und an Dachluken vorbei und kletterte über Giebel. Ren konnte ihm nur mit Mühe folgen, da der Wind über die Kanten fegte und die Dachziegel vom Regen glitschig waren. Er verlor den Halt und schlitterte auf den Knien weiter. Gerade noch rechtzeitig bekam er ein Abflussrohr zu fassen, das ihn davor bewahrte hinunterzufallen.