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McGinty hatte die Stirn gerunzelt. Jetzt griff er wieder in die Schublade und holte ein kleines Glasgefäß hervor. Neugierig hob er es ans Licht und stellte es dann auf den Tisch. »Was zum Teufel ist das denn?« Das Gefäß war mit einer hellgelben Flüssigkeit gefüllt. Ren betrachtete sie verblüfft, bis es ihm dämmerte. Das war Ichys Pisse.

Der Zylinder und die Melone machten erschrockene Gesichter. Wenn es je darauf angekommen war, den Unschuldigen zu spielen, dann jetzt; das wusste Ren. Unterdessen war Benjamin zum Fabrikfenster hinübergerobbt und hielt den blauen Verband in die Luft wie eine Fahne, als wollte er jemandem dort unten ein Zeichen geben.

McGinty schraubte den Deckel auf und beschnupperte den Inhalt des Gefäßes. Als er einatmete, veränderte sich sein Gesicht, aus der Röte wurde ein dunkles Purpurrot. Er stürzte sich auf Ren, packte ihn an der Jacke und zog ihn über den Tisch; Schriftstücke und Schreibfedern flogen davon. Die Lampe wurde umgestoßen und klirrte zu Boden. McGinty warf sich mit seinem ganzen Gewicht auf den Jungen.

»Du dreckiger kleiner Bastard!«

»Das war ich nicht.«

»Außer dir war niemand hier drin. Außer dir hatte niemand Gelegenheit dazu!«

McGinty schnappte sich den Revolver, stieß ihn Ren unters Kinn und drückte ihn so fest an seine Kehle, dass Ren nach Luft schnappte. Der Junge riss den Arm nach vorn, um sich irgendwo festzuhalten. Seine Fingerspitzen berührten den Rand des Glasgefäßes. Und dann hatte er es in der Hand und schleuderte McGinty den Inhalt ins Gesicht.

Prustend ließ McGinty den Jungen los und wich ans Fenster zurück, von dem aus man auf die Fabrik hinunter sah. Sein Anzug war vorn klatschnass. Gelb auf Gelb. Uringeruch erfüllte die Luft. Die Hutmänner zerrten Ren vom Schreibtisch weg. Und Benjamin war auf den Knien und schwenkte den blauen Verband wild über seinem Kopf, als wollte er damit ihrer beider Leben retten.

Ein ohrenbetäubender Knall ertönte, die Glasscheibe zerbarst, Splitter spritzten in alle Richtungen. Die Melone und der Zylinder fielen zu Boden und hielten sich die Hände vors Gesicht. Ren rollte sich unter den Schreibtisch. Er hatte lauter Glasgeriesel auf der Haut, und als er den Arm bewegte, spürte er hundert winzige Kratzer und Schnitte. Er spähte unter dem Schreibtisch hervor in den Raum, der jetzt voller Staub und Glassplitter war und in den durch ein klaffendes Loch plötzlich ein Luftzug wehte.

McGinty stand vor dem geborstenen Fenster, schwankend und unsicher auf den Beinen. Er seufzte, dann hustete er, und auf seiner Brust erblühte ein roter Fleck.

Die Melone kroch quer durch den Raum, hielt McGinty fest und zerrte ihn auf den Boden. Der Zylinder stürzte ans Fenster und zog seine Waffe. Er richtete sie auf die Fabrikhalle, ließ sie hin und her über die Mausfallenmädchen gleiten. »Wer hat geschossen?«, schrie er.

Unten standen die Mädchen an ihren Werkbänken, die Hände emsig bei der Arbeit. Ringsum summten die Maschinen. Keine von ihnen blickte auf. Die Leimmädchen klatschten Leim auf die Ränder. Die Federmädchen schoben die Drähte hinein. Die Sägemädchen hielten die Holzstücke fest und legten sie zurecht und schnitten, legten zurecht und schnitten. Und dort, an ihrer Werkbank, stand mit geröteten Wangen die Hasenscharte, den Kopf über ihre Mausefalle gebeugt.

McGinty versuchte sich umzudrehen. Das Glas haftete an seinem Körper wie eine rissige Hautschicht. Die Melone hielt ihn fest. Er müsse warten, sagte er. Sie würden einen Arzt holen. McGinty schüttelte den Kopf.

»Hol den Jungen her«, sagte er. Der Zylinder und die Melone sahen einander an, dann zogen sie Ren unter dem Schreibtisch hervor. Das Loch in McGintys Brust war tief und an den Rändern schartig. Bei jedem Atemzug ergoss sich ein Schwall Blut über seinen gelben Anzug. Er fixierte Ren, als erwartete er etwas von ihm. Dann schloss er die Augen. »Margaret«, murmelte er. »Mach die Tür auf.« Und dann war er tot.

Kapitel 34

Die Straßen waren nass vom Regen, der bereits wieder aufgehört hatte. Er hatte den Gestank und den Ruß der Stadt vorübergehend vom Himmel gewaschen, und die Luft roch frisch. Ren stolperte in seinen Socken aus dem Büro. Sein Gesicht war mit winzigen Schnitten übersät, sein Herz klopfte, und Benjamin hielt seine Hand umklammert.

Sie hatten sich hinausgestohlen, während im Büro ein wildes Durcheinander ausbrach. Die Fabrik hallte wider von Geschrei und Gekreisch, als sich die Hutmänner um den toten McGinty scharten. Ein paar durchwühlten sogleich den Schreibtisch nach Geld, während andere die Teppiche zusammenrollten oder Gemälde von den Wänden holten. Alle versuchten, an sich zu reißen, was ging, und rannten damit durch die Gänge. Benjamin hielt Ren fest und dirigierte ihn die Treppe hinunter; sie fädelten sich zwischen den Mausefallenmädchen in der Werkshalle hindurch, schlüpften durch den Seiteneingang, den ihnen die Hasenscharte mit einem bangen Lächeln aufhielt, schlenderten dann an den Soldaten an der Straßenecke vorbei, die sich umdrehten und ihnen neugierig nachschauten, als sie ihren Weg die Straße hinunter fortsetzten. Nun bogen sie ab in Richtung Pension, nach Hause, und fingen an zu laufen.

Der Gehsteig war voller Pfützen, und Rens Socken wurden patschnass. Er sah zu Benjamin hinauf. Sein Gesicht war noch geschwollen, aber den Kopfverband hatte er weggeworfen. Sein Arm war anscheinend auch nicht mehr gebrochen. Zwar hinkte er zwischendurch ein wenig, aber seine Beine konnten gut mit Ren Schritt halten.

»Du bist ja gar nicht verletzt.«

»Doch«, sagte Benjamin. »Nur nicht so schlimm, wie sie dachten.«

»Aber deine Zähne …«

Benjamin legte eine Hand vor den Mund. »Ich werde wohl Mister Bowers einen Besuch abstatten müssen.«

Hinter ihnen läutete die Glocke der Mausefallenfabrik. Nicht ein- oder zweimal wie sonst, wenn sie die Mädchen zur Arbeit rief, sondern wieder und immer wieder, bis die Landstreicher, die am Straßenrand lagen, die Köpfe hoben und die Türen und Fensterläden an den Häusern aufgingen und die Witwen sich hinausbeugten und die alten Männer, die im Fluss angelten, die Stirn runzelten und ihre Schnüre einholten.

In O’Sullivans Taverne stolperten die Stammgäste zur Tür hinaus, um festzustellen, was der Tumult zu bedeuten hatte. Zwei Soldaten mit verrutschten Uniformen sahen Ren und Benjamin vorbeilaufen. Dann hörten sie ihren Offizier rufen und schnallten sich die Gewehre um. Benjamin zog Ren in eine enge, mit Wäscheleinen überspannte Gasse, dieselbe, in der Ren mit der Hasenscharte gestanden hatte, und dort warteten sie, geduckt hinter einer Abfalltonne, mit angehaltenem Atem, bis die Soldaten vorbeigegangen waren.

»Ich dachte, er hätte dich laufen lassen«, sagte Ren.

Benjamin schüttelte den Kopf.

»Er wusste, wer ich bin. Von Anfang an.« Er lehnte sich an die Tonne und presste seine Finger in die Seite. »Ich glaube, er wollte nur hören, dass du es sagst.«

»Dass du mein Vater bist?«

»Ja.«

Ren wartete darauf, dass diese Wahrheit zerbrach, wie alle anderen auch. Aber das geschah nicht. Sie blieb zwischen ihnen in der Luft hängen. So greifbar wie die Kleidungsstücke, die über ihren Köpfen an der Leine baumelten. Ren kam sich vor wie im Märchen. Als müsste er, damit etwas geschah, nichts anderes tun, als es laut auszusprechen.

»Da, nimm.« Benjamin griff in seine Manteltasche und zog das Schriftstück heraus, das McGinty unterzeichnet hatte. »Gib es Tom. Sorg dafür, dass es niemand anders in die Finger kriegt.«

Das Papier zwischen Rens Fingern fühlte sich dünn an. Die Ränder scharfkantig. »Gehst du fort?«

»Sie suchen mich schon. Ich muss wohl für einige Zeit verschwinden.«

»Aber du hast ihn nicht umgebracht.« Ren konnte nicht verhindern, dass seine Stimme versagte.