Benjamin klopfte ihm auf den Rücken. »Na komm schon, kleiner Mann.«
Es war zu spät. Ren weinte. Beschämt wischte er sich die Nase ab. »Kannst du mich denn nicht mitnehmen?«
»Ich versuche, das Richtige zu tun«, sagte Benjamin. »Mach es mir nicht noch schwerer.« Er griff nach oben und zupfte ein Hemd, eine Arbeitshose und eine Jacke von der Leine. Dann zog er seinen zerrissenen Mantel aus, hüpfte kurz in seiner langen Unterhose hin und her und schlüpfte in die neuen Kleider. Als er fertig war, sah er aus wie ein anderer Mensch. Wie ein Mann, der Sorgen hatte. Ein Vater.
»Warum hast du es mir nicht früher gesagt?«, fragte Ren.
Benjamin sah einen Moment lang ernst aus, dann knuffte er Ren kräftig in die Schulter. »Du hättest mir wohl kaum geglaubt.«
Ren versuchte zu lachen, aber er zitterte. Der Wind fegte durch die Gasse, als wollte er sie antreiben. Staub wehte zwischen den Häusern hindurch, und die Laken über ihren Köpfen knatterten.
Benjamin zog einen Pullover von der Wäscheleine. Er stülpte ihn Ren über den Kopf und schob nacheinander seine beiden Arme in die Ärmel. Der Pullover war so lang, dass er Ren bis zu den Knien reichte. Aber er war dick und warm, und die Kälte erschien Ren nicht mehr so beißend wie zuvor.
»Halt still«, sagte Benjamin. Mit Daumen und Zeigefinger zupfte er Ren einen Glassplitter aus der Wange. Dann balancierte er das glitzernde Ding auf der Fingerspitze, als wartete er darauf, dass Ren sich etwas wünschte.
»Was wünschst du dir am allermeisten?«
Der Junge schloss die Augen, und Benjamin drückte ihm etwas in die Hand. Ren spürte die quadratische Form, die winzigen Mulden, dort wo die winzigen Finger sich spreizten. Ein erstarrter Gruß. Das Glas in seiner Handfläche wurde warm, als krümmten sich die eingeschlossenen Fingerspitzen, um die seinen zu berühren. Als hätte seine kleine Hand nur gewartet, bis sie wieder beisammen waren, um sich aufs Neue zur Faust zu schließen.
Die Glocke läutete immer noch, als Ren aus der schmalen Gasse trat. Er hörte sie schlagen, als riefe sie zum Gebet, und es war, als zählte sie die Straßen, die er noch vor sich hatte. Fünf, dann vier, dann drei, dann zwei. All die Worte, von denen er sich losgesagt hatte, kamen wieder angeschwemmt, so vertraut wie der eigene Atem. »Dein Reich komme. Dein Wille geschehe. Und vergib uns unsere Schuld. Bitte für uns Sünder, jetzt – jetzt, jetzt – und in der Stunde …« Er unterbrach sich. Und fing noch einmal von vorn an.
Er kam an ein paar Mausefallenmädchen vorbei, die ihre Schultertücher festhielten, und an Dirnen, noch in den Kleidern der vergangenen Nacht, die von der Straße aus zur Fabrik hinübersahen. Die Pension hinter ihnen wirkte unbewohnt und verlassen. Aus dem Schornstein stieg kein Rauch auf. Die Fensterläden waren geschlossen. Die Türen zugesperrt. Ren hämmerte ans Holz und schrie.
Er hörte, wie Möbelstücke beiseite gerückt wurden und jemand den Riegel zurückzog. Die Tür ging auf, und im Eingang standen die Zwillinge. Ren schlang die Arme um alle beide.
»Alles in Ordnung?«, fragte Brom.
Ren nickte. Ichy nahm ihn am Ellbogen und führte ihn ins Haus. In der Pension sah es wüster aus denn je – Löcher in den Wänden, zertrümmerte Möbel überall.
»Wir haben die Schlägerei gehört«, sagte Ichy.
»Wir haben Papa aufgeweckt.«
»Und er hat sein Schießeisen geholt.«
»Bis wir ihn runterschaffen konnten, warst du verschwunden.«
»Und in der Küche lagen lauter tote Männer.«
»Wir haben sie in den Stall hinausgeschleift.«
»Wir dachten, sie hätten dich mitgenommen und wollen dich umbringen.« Die Brüder gaben sich Mühe, ein tapferes Gesicht zu machen, aber Ren sah ihnen an, dass ihnen diese Vorstellung furchtbar zugesetzt hatte.
»Papa hat uns befohlen, die Tür zu verbarrikadieren.«
»Er hatte Angst, sie könnten zurückkommen und uns umbringen.«
Während sie sprachen, betrachtete Ren das Blut. Es bedeckte in großen getrockneten Lachen die Läufer, zog sich in Streifen über die Holzdielen und sprenkelte den Weg hinaus in den Hinterhof.
»Wo ist Dolly?«
Die Zwillinge wechselten einen Blick.
»Sie haben ihn erschossen«, sagte Ichy schließlich. »Sie haben so oft auf ihn geschossen, dass er nicht mehr aufstehen konnte.«
Draußen vor dem Stall lag ein sorgfältig aufgeschichteter Stapel Decken, unter dem sich die Leichen von Pilot und den Hutmännern verbargen. Daneben stand der Esel vor einem Haufen Heu und fraß. Tom saß mit grimmiger Miene auf einem Hocker, sah dem Tier beim Fressen zu, hatte sein verletztes Bein ausgestreckt und wiegte den Revolver im Schoß. Als er Ren aus der Hintertür kommen sah, wurde sein Gesicht weich. »Unser Kamerad«, sagte er.
Dolly lag in dem Stall, in dem sie das Pferd des Farmers untergestellt hatten. Der Geruch nach Pferdemist hatte etwas nachgelassen, dafür roch es jetzt nach Staub und Blut. Die Zwillinge hatten eine Steppdecke über Dolly geworfen und ihm ein Kissen, das aus Mrs. Sands’ Stube stammte, unter den Kopf geschoben. Er hatte einen Verband um den Hals und einen zweiten über der Schulter. Als Ren die Steppdecke anhob, sah er, dass Arme, Beine und Brust durchlöchert waren und seine Mönchskutte vor Blut triefte. Das Heu unter ihm hatte sich rot gefärbt.
Ren berührte den Verband an Dollys Hals. Er hinterließ an seinen Fingern Flecken wie von Rotwein.
»Er hat behauptet, er hätte dich in den Kamin geschoben.«
»Hat er auch.«
Tom zog die Augenbrauen hoch, dann rückte er seinen Fuß zurecht. »Ich dachte schon, er hätte sie nicht mehr alle.«
Ren legte seinen Kopf an Dollys Brust.
»Er ist tot«, sagte Tom.
Ren horchte weiter.
Der Schullehrer steckte den Revolver in seinen Rock. Er betrachtete den Jungen eine Weile. Dann schüttelte er den Kopf. »Komm doch ins Haus.«
»Nein«, sagte Ren.
Tom zupfte an seinem Bart und seufzte. Dann verlagerte er das Gewicht nach vorn, stand auf, rückte die Schiene zurecht und ging, das Bein hinter sich herschleifend, über den Hof ins Haus. Ren hörte, wie er die Tür hinter sich schloss.
Der Nachmittag ging in den Abend über. Während Ren wartete, erzählte er seinem Freund alles, was geschehen war. Er redete, bis ihm nichts mehr einfiel, und dann redete er noch ein bisschen weiter. Ab und zu schnaubte der Esel, den die Zwillinge in den Stall gebracht hatten, und wandte Ren den grauen Kopf zu, als wunderte er sich über die Geschichte, die der Junge erzählte. Als die Sterne herauskamen, brachten ihm Ichy und Brom eine Kerze und eine Steppdecke. Ren legte sich die Decke um die Schulter. Aber den Stall wollte er nicht verlassen. Noch nicht.
Als es zu dämmern begann, öffnete er ein Fenster, damit Dolly die Vögel hören konnte. Sie sangen unablässig und hörten gar nicht mehr auf. Rens Kehle war trocken, aber er war überzeugt, dass seine Stimme Dolly erreichen würde, wenn er nur noch ein bisschen länger mit ihm sprach. War überzeugt, dass die richtigen Worte alles vollbringen konnten. Er dachte an die Statue des heiligen Antonius und an die vielen sinnlosen Gebete, die er davor gesprochen hatte, um Dinge, die gar nicht verloren gegangen waren.
Ren erzählte Dolly vom Waisenhaus und dann auch vom heiligen Antonius. Davon, wie er den Fischen gepredigt, wie er Leonardos Fuß wieder angefügt und wie er einen kleinen Jungen von den Toten auferweckt hatte. »Am Ende seines Lebens wohnte der heilige Antonius in einem Walnussbaum«, sagte Ren. »Er wollte den Boden nicht mehr berühren. Er wollte dem Himmel so nahe sein, wie es nur ging.«
Ren nahm Dollys riesige Hand in seine. Sie war kalt, die Finger steif und unnachgiebig. Draußen zwitscherten die ersten Vogel und schickten ihre Rufe aus. Man hörte es flattern, und ein Schwalbennest hoch oben im Gebälk des Stalls erwachte piepsend zum Leben. Ein Vogel rief, sein Gefährte antwortete; die frisch geschlüpften Kinder sperrten die Schnäbel auf, um gefüttert zu werden. Ren lehnte sich an Dollys Kissen. Er wartete auf ein Zeichen und redete weiter, erzählte von einem Heiligen, der die Welt der Menschen verlassen hatte und hinauf ins Geäst geklettert war, um den Rest seiner Tage dort zu verbringen, und wie daraufhin Christus zu ihm kam und oben in den Zweigen Wunder geschahen.