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»Wo bringt er dich hin?«, fragte Brom.

»Das weiß ich nicht«, sagte Ren. Und eine Art Bedauern erfüllte ihn, eine Sehnsucht nach allem, was er aufgeben würde – den Fischgeruch, die Hafergrütze zum Frühstück, die dünnen Decken, die kalten, hallenden Steinmauern. Aber er wusste, wie es sich anfühlte, wenn man zurückblieb, und zum ersten Mal in seinem Leben war er nicht derjenige, der mit einem Klumpen in der Magengrube vom Tor aus zusah, wie ein anderer heimgeholt wurde. Und er hatte gelernt zu sagen, was sie alle sagten – »Ich komme wieder und besuche euch« –,und wie alle anderen wusste er, dass das nie geschehen würde.

Kapitel 5

Erst als der Riegel am Tor zugeschoben wurde, kam so etwas wie Angst in Ren auf. Gleich würde die Nachmittagsvesper beginnen. Pater John würde das erste Gesätz des Rosenkranzes vorbeten, und Ren wäre nicht da. Stattdessen war er draußen und ging hinter einem Fremden her die Straße entlang. Die Sonne und das Gras und die Bäume schienen das zu wissen; sogar die Luft, durch die sie gingen, fühlte sich aufgeladen an. Da er nicht recht wusste, was er sagen sollte, gab er sich einfach nur Mühe, mit Benjamin Nab Schritt zu halten.

Sie waren erst eine halbe Meile gegangen, als sie das Ende der Blaubeersträucher erreichten. Weiter hatte sich Ren noch nie vom Waisenhaus entfernt. Jedes Jahr im Hochsommer wurden die Jungen losgeschickt, um Blaubeeren zu pflücken. Es war immer aufregend, sich außerhalb der Backsteinmauer aufzuhalten, und für Ren verband sich dieses Gefühl mit dem Geschmack der Beeren, den Flecken, die der Saft hinterließ, der dünnen blauen Haut, die so leicht zu beschädigen war. Jetzt war es Herbst, und die Sträucher sahen ganz anders aus, weil sich ihre Blätter rot und orange verfärbt hatten.

Ren und Benjamin Nab folgten der Straße. Sie kamen an mehreren Feldern vorbei und gingen einen Hügel hinauf, und als sie die Kuppe erreicht hatten, keuchten beide. Ren blickte weit in die Ferne, bis zum Rand der Berge und in ein Tal hinunter. Jeder Quadratmeter war mit Bäumen bedeckt, das Herbstlaub, in dem sich das Licht der Nachmittagssonne fing, leuchtete in kräftigen Farben – Gelb, Rot und Orange, aber auch Ockergelb und Zinnoberrot, Purpurrot und Gold. Ein herrlicher, schimmernder Anblick.

Benjamin Nab stemmte die Hände in die Hüften und betrachtete die Landschaft, als gehörte das alles ihm. Dann wandte er sich wieder an Ren. »Lass dich noch mal ansehen.«

Ren stand da, ohne sich zu rühren, während der Mann um ihn herumging. Er hob den Arm des Jungen und inspizierte das Ende des Handgelenks, über das ein Stück Haut genäht worden war. Ren hielt Ausschau nach den üblichen Anzeichen von Unbehagen oder Abscheu. Aber Benjamin Nabs Miene verriet nichts davon. Nur die Augenbrauen zog er hoch.

»Naja«, sagte er. »Eine hast du ja noch, oder?«

Unterhalb der Wangenknochen hatte er rote Flecken, Zeichen einer angegriffenen Haut. Seine Augenbrauen waren hell, aber die Brillenränder glichen das aus, verliehen ihm ein entschlossenes Aussehen. »Du wirst prima zurechtkommen«, sagte Benjamin Nab. Dann richtete er sich auf, und sie folgten weiter der Straße ins Tal hinunter. Hinter ihnen ging die Sonne unter, und mit ihr verschwand Saint Anthony.

Benjamin Nab war ein flotter Geher, der mit einer raschen Drehung seines Stiefels mühelos Bodenrinnen und Dunghaufen auswich. Die Kriegsverletzung, über die er in Saint Anthony geklagt hatte, war anscheinend verschwunden. Ren hatte Mühe, mit ihm Schritt zu halten. Er hoffte, Benjamin Nab würde noch eine Geschichte von ihren Eltern erzählen, doch der blieb stumm, während die Bäume sich in Schatten verwandelten und sich dann als dunkle Silhouetten am Himmel abzeichneten.

»Wohin gehen wir?«, fragte Ren schließlich.

»Das wirst du noch früh genug merken.«

»Ich muss aufs Klo.«

Benjamin Nab blieb stehen. Er strich seine Haare zurück und band sie wieder zusammen, dann deutete er auf den Wald. »Da hast du dein Klo.«

Zögernd trat Ren ins Gestrüpp gleich neben der Straße.

»Geh nicht zu weit rein«, sagte Benjamin Nab. »Im Wald gibt es alle möglichen Wesen, die dich verschleppen könnten.«

Während Ren seine Hose aufknöpfte, lauschte er den Geräuschen, die die Bäume machten. Ein leichter Wind regte sich, die ersten Sterne kamen zum Vorschein. Er hörte das Knarzen der Äste über seinem Kopf, das Ächzen der schwankenden Stämme. Zu seiner Linken raschelte es, und er erschrak und wich in dorniges Gestrüpp zurück, das nach seinen Haaren grapschte, als er auf die Straße lief.

Als er aus dem Gebüsch auftauchte, stand Benjamin mit auf dem Rücken verschränkten Händen da und wartete; sein langer Mantel wehte im Wind. Er schaute hinauf zu den Baumwipfeln. Ren folgte seinem Blick und sah ein Farmhaus oben auf einem Hügel und einen Pfad, der zu einer abseits der Straße stehenden Scheune führte. Aus den Fenstern des Farmhauses drang kein Licht, aber aus dem Kamin stieg noch dünner Rauch auf. Ein fast erloschenes Feuer.

Benjamin strich Rens Jacke glatt. Er musterte den Jungen von oben bis unten.

»Mach deine Hose zu.«

Ren knöpfte den Hosenstall zu und verknotete das Stück Schnur, das die Hose hielt.

»Und kein Wort«, sagte Benjamin. »Du hältst einfach den Mund. Und schaust mir zu. Und lernst.« Damit ergriff er Rens Hand und marschierte den Weg zum Farmhaus hinauf.

Es war ein kleines Gebäude, mit einem Gemüsegarten und dahinter zwei Hektar Ackerland oder etwas mehr. Das Dach bestand aus Schieferplatten, und der Kamin befand sich in der Mitte des Hauses. Neben der Tür stand ein Rosenstrauch mit ein paar geschlossenen Knospen, die der Kälte noch trotzten. Benjamin klopfte, und es dauerte nicht lang, da tauchte hinter einem der Fenster eine Kerze auf, und dann ging der Fensterrahmen hoch, und ein Gewehrlauf schob sich heraus und richtete sich auf sie.

Benjamin nickte dem Gewehr zu wie einem Menschen. »Wir sind auf dem Weg nach Wenham und haben anscheinend die falsche Straße erwischt. Ich hatte gehofft, Ihr würdet uns die Nacht in Eurer Scheune verbringen lassen.«

»Ich lasse keine Fremden auf meinen Hof, egal ob bei Tag oder Nacht«, sagte eine Männerstimme. »Und jetzt verschwindet.«

»Ich würde Euch gern für Eure Mühe entlohnen«, sagte Benjamin und wühlte demonstrativ in seinen Taschen. »Ich mache mir vor allem Sorgen um den Jungen. Ich möchte in der Dunkelheit nur ungern noch weiter gehen mit ihm. Wir sind schon den ganzen Tag gelaufen, und er ist furchtbar müde.«

Ren spürte plötzlich einen Tritt in die Kniekehlen. Er taumelte und fiel vor dem Fenster zu Boden, so dass der Gewehrlauf nur wenige Zentimeter von seinem Kopf entfernt war.

»Jim!«, ertönte eine Frauenstimme. Ren blickte auf und sah im Kerzenschein das Gesicht der Frau. Ihr braunes Haar war zu Zöpfen geflochten, und über das Nachtgewand hatte sie ein Schultertuch geworfen. Ihre Stirn berührte die Glasscheibe, durch die sie die beiden beäugte. Sie flüsterte etwas in die Dunkelheit des Hauses. Zurück kam ein leises Murmeln. Das Gewehr verschwand aus dem Fenster.

Die Tür ging auf.

»Bitte, kommt doch herein«, sagte die Frau.

Benjamin hob Ren vom Boden auf, klopfte ihm den Schmutz ab, nahm ihn am Ellbogen und führte ihn über die Türschwelle. »Ich weiß gar nicht, wie ich Euch danken soll.«

»Jeder Christenmensch würde dasselbe tun«, sagte sie.

Das Kerzenlicht reichte kaum aus, um zu erkennen, wohin sie gingen, und Ren stieß gegen etwas, das sich wie ein Hocker, und dann an etwas anderes, das sich wie eine Tischkante anfühlte. Die Frau stellte die Kerze ab und zündete an ihrer Flamme eine zweite an. Diese steckte sie in eine Halterung, die von der Decke herabhing, und stülpte ein Sturmglas darüber, so dass der Raum erleuchtet wurde, und da erst sah Ren den Farmer, der ihn in Saint Anthony übergangen hatte, mit einem Nachthemd bekleidet am Kamin stehen, das Gewehr fest in der Hand.