Выбрать главу

Im nächsten Augenblick passierte jedoch etwas, das Lucia bewog, ihren Plan zu ändern.

Schwester Teresa stolperte auf dem Waldweg, verlor fast das Gleichgewicht und ließ den in das Leinentuch gehüllten Gegenstand fallen, den sie bisher so ängstlich gehütet hatte. Die Umhüllung öffnete sich, und Lucia sah in den Strahlen der Morgensonne ein großes, kostbar gearbeitetes goldenes Kruzifix blinken.

Das ist reines Gold, dachte Lucia, dort oben meint ’s irgendjemand gut mit dir. Dieses Kruzifix ist ein Geschenk des Himmels. Das ist deine Fahrkarte in die Schweiz.

Lucia beobachtete, wie Schwester Teresa das goldene Kruzifix sorgfältig wieder in das Leinen hüllte, und lächelte dabei vor sich hin. Das Kruzifix an dich zu bringen wird ein Kinderspiel, dachte Lucia. Diese Nonnen tun doch, was du ihnen sagst!

Ganz Avila war empört. Die Nachricht von dem Überfall auf das Kloster hatte rasch die Runde gemacht, und Pater Berrendo wurde dazu bestimmt, bei Oberst Acoca dagegen zu protestieren. Der Geistliche war über siebzig, und seine scheinbare Gebrechlichkeit täuschte über seine innere Stärke hinweg. Seinen Gemeindemitgliedern gegenüber war er ein warmherziger, verständnisvoller Hirte. Aber im Augenblick erfüllte ihn kalte Wut.

Oberst Acoca ließ den Geistlichen eine Stunde lang warten, bevor er sein Dienstzimmer betreten durfte.

»Sie und Ihre Männer sind grundlos in ein Kloster eingedrungen«, sagte Pater Berrendo ohne weitere Einleitung. »Das ist ein Akt des Wahnsinns gewesen!«

»Wir haben lediglich unsere Pflicht getan«, wehrte der Oberst knapp ab. »Die Abtei hat Jaime Miro und seiner Mörderbande Unterschlupf geboten, deshalb haben die Schwestern sich alles selbst zuzuschreiben. Sie bleiben in Haft, bis wir alle vernommen haben.«

»Haben Sie Miro im Kloster Avila angetroffen?« fragte der Geistliche aufgebracht.

»Nein«, gab Acoca ungerührt zu. »Er und seine Leute sind rechtzeitig geflüchtet. Aber wir spüren sie auf, damit die Gerechtigkeit ihren Lauf nehmen kann.«

Meine Gerechtigkeit, dachte Oberst Acoca wütend.

5

Die Nonnen kamen nur langsam voran; ihre Ordenstracht war für eine Bergwanderung schlecht geeignet. Ihre Sandalen waren zu dünn, um ihre Füße vor dem scharfkantigen Geröll zu schützen, und ihre langen Habite blieben überall hängen. Schwester Teresa musste feststellen, dass sie nicht einmal ihren Rosenkranz beten konnte. Sie brauchte beide Hände, um zu verhindern, dass ihr Zweige ins Gesicht peitschten.

Bei Tageslicht erschien ihnen die Freiheit noch erschreckender als zuvor. Gott hatte die Schwestern aus dem Garten Eden in eine fremde, schreckliche Welt hinausgetrieben, und seine Führung, der sie sich so lange anvertraut hatten, gab es nun nicht mehr. Sie fanden sich ohne Karte und Kompass in unwegsamem Gelände wieder. Die Mauern, hinter denen sie sich stets sicher gefühlt hatten, waren verschwunden, so dass sie sich nackt und schutzlos vorkamen.

Überall lauerten Gefahren, und die Schwestern hatten keinen Zufluchtsort mehr. Sie waren Fremde in einer fremden Umgebung. Die ungewohnten Anblicke und Geräusche im Freien waren verwirrend. Insekten und singende Vögel und der wolkenlos blaue Himmel wirkten auf ihre Sinne ein. Und dazu kam etwas, das noch viel verwirrender war.

Unmittelbar nach ihrer Flucht aus dem Kloster hatten Teresa, Megan und Graciela sich noch instinktiv an die Ordensregel gehalten und es sorgfältig vermieden, einander anzusehen. Aber jetzt waren sie bei jeder sich bietenden Gelegenheit eifrig damit beschäftigt, die Gesichter der anderen zu betrachten. Und nach all den schweigend verbrachten Jahren fiel ihnen das Sprechen schwer: Wörter und Sätze kamen ihnen nur stockend über die Lippen, als seien sie dabei, eine ganz neue Fertigkeit zu erlernen. Ihre Stimmen klangen merkwürdig in ihren Ohren. Nur Lucia wirkte so unbefangen und selbstsicher, dass die anderen sich instinktiv ihrer Führung anvertrauten.

»Eigentlich war’s Zeit, dass wir uns miteinander bekannt machen«, meinte Lucia. »Ich bin Schwester Lucia.«

»Ich bin Schwester Graciela«, sagte Graciela nach einer verlegenen Pause schüchtern.

Die schwarzhaarige Schönheit.

»Ich bin Schwester Megan.«

Die junge Blondine mit den knallblauen Augen.

»Ich bin Schwester Teresa.«

Die Älteste der Gruppe. Fünfzig? Sechzig?

Während sie in dem Wäldchen außerhalb des Dorfes rasteten, dachte Lucia: Sie sind wie aus dem Nest gefallene frisch geschlüpfte Vögel. Auf sich allein gestellt, halten sie keine fünf Minuten durch. Na, das ist eben ihr Pech. Du bist dann schon mit dem Kruzifix in die Schweiz unterwegs.

Lucia trat an den Rand der Lichtung, auf der sie lagerten, und blickte durch die letzten Baumreihen auf das Dorf unter ihnen hinab. Auf den Straßen waren Menschen unterwegs, aber die Männer, die das Kloster überfallen hatten, waren nirgends zu sehen. Jetzt! dachte Lucia. Hier kommt deine Chance!

Sie drehte sich nach den anderen um. »Ich gehe ins Dorf runter und versuche, uns was Essbares zu organisieren. Ihr wartet hier.« Lucia nickte Schwester Teresa zu. »Du kommst mit.«

Schwester Teresa war verwirrt. Dreißig Jahre hatte sie nur die Anordnungen der Ehrwürdigen Mutter Betina befolgt - und jetzt hatte plötzlich diese Mitschwester die Führung übernommen. Aber auch sie ist ein Werkzeug Gottes, sagte Schwester Teresa sich. Er hat sie auserwählt, uns zu helfen, deshalb spricht sie mit seiner Stimme. »Ich muss dieses Kruzifix so rasch wie möglich ins Kloster Mendavia bringen.«

»Ja, ich weiß. Unten im Dorf können wir nach dem Weg fragen.«

Die beiden machten sich auf den Weg bergab ins Dorf, das fast schon eine kleine Stadt war. Lucia hielt scharf Ausschau nach verdächtigen Gestalten, ohne jedoch welche zu sehen.

Ein Kinderspiel! dachte Lucia wieder.

Die beiden Nonnen erreichten die ersten Häuser. Auf dem Ortsschild stand Villacastin. Vor ihnen lag die Hauptstraße, von der links eine schmalere, menschenleere Seitenstraße abzweigte.

Ausgezeichnet, dachte Lucia. Dort kriegt keiner mit, wie ich ihr das Kruzifix abnehme.

Lucia bog auf die Seitenstraße ab. »Komm, wir gehen hier weiter. Da sehen uns weniger Leute.«

Schwester Teresa nickte und folgte ihr bereitwillig. Die Frage war nun, wie Lucia ihr das Kruzifix abnehmen sollte.

Du könntest es ihr wegreißen und davonlaufen, dachte Lucia, aber sie würde wahrscheinlich kreischen und die halbe Einwohnerschaft auf dich hetzen. Nein, du musst dafür sorgen, dass sie eine Zeitlang den Mund hält.

Vor ihr auf der Straße lag ein Ast von einem Baum in einem der Vorgärten. Lucia blieb stehen, hob ihn auf und knickte ihn auf einen halben Meter Länge ab. Der Rest hatte genau das richtige Gewicht. Sie wartete, bis Schwester Teresa sie eingeholt hatte.

»Schwester Teresa.«

Die Nonne blieb stehen, aber als Lucia eben den Knüppel hinter ihrem Rücken hervorholen wollte, sagte eine laute Männerstimme: »Gott sei mit euch, Schwestern.«

Lucia warf sich fluchtbereit herum. Hinter ihr stand ein großer, hagerer Mann in der braunen Kutte eines Franziskaners. Er hatte ein schmales Gesicht mit einer Adlernase und dem heiligsten Ausdruck, den Lucia je bei einem Mann gesehen hatte. Seine Augen schienen von innen heraus warm zu leuchten, und seine Stimme war sanft und freundlich.