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»Ich bin Frater Miguel Carrillo.«

Lucia überlegte in fieberhafter Eile. Ihr ursprünglicher Plan war gescheitert. Aber jetzt hatte sie plötzlich einen besseren. »Gott sei Dank, dass Sie uns gefunden haben!« sagte sie.

Mit Hilfe dieses Mannes würde ihr die Flucht gelingen. Er würde wissen, wie man am schnellsten aus Spanien herauskam.

»Wir sind Zisterzienserinnen und kommen aus dem Kloster Avila«, erklärte Lucia ihm. »Letzte Nacht sind wir von einer Horde von Männern überfallen worden. Unsere Mitschwestern sind festgehalten worden, aber uns ist zu viert die Flucht gelungen.«

Als der Frater antwortete, klang seine Stimme betrübt und zornig zugleich. »Ich komme aus dem Kloster Santo Generro, in dem ich zwanzig Jahre lang gelebt habe. Wir sind vorgestern Nacht überfallen worden.« Er seufzte. »Ich weiß, dass Gott für alle seine Kinder irgendeinen Plan hat, aber ich muss gestehen, dass ich im Augenblick nicht begreife, wie er aussehen könnte.«

»Diese Männer suchen uns«, stellte Lucia fest. »Wir müssen Spanien so schnell wie möglich verlassen. Wissen Sie, wie sich das machen lässt?«

Frater Miguel lächelte sanft. »Ich glaube, dass ich Ihnen helfen kann, Schwester. Gott hat uns zusammengeführt. Bringen Sie mich zu den anderen.«

Lucia nahm den Franziskaner zu ihren Mitschwestern mit.

»Das ist Frater Miguel Carrillo«, stellte sie ihn den anderen vor. »Er hat zwanzig Jahre lang im Kloster Santo Generro gelebt. Er ist gekommen, um uns zu helfen.«

Ihre Reaktion auf den Mönch war unterschiedlich. Gra-ciela wagte nicht, ihm direkt ins Gesicht zu sehen. Megan studierte ihn mit raschen, interessierten Blicken, und für Schwester Teresa war er ein Bote Gottes, der sie zum Kloster Mendavia führen würde.

»Die Männer, die euer Kloster überfallen haben, suchen bestimmt weiter nach euch«, sagte Frater Miguel. »Aber sie haben es auf vier Nonnen abgesehen - deshalb müsst ihr euch als erstes umziehen.«

»Wir haben keine Kleider zum Wechseln«, wandte Megan ein.

Frater Miguel lächelte sanft. »Unser Herrgott besitzt eine umfangreiche Garderobe. Machen Sie sich keine Sorgen, mein Kind. Er wird Vorsorge treffen. Lassen Sie uns nach Villacastin hinuntergehen.«

Gegen vierzehn Uhr, zur Siestazeit, gingen Frater Miguel und die vier Zisterzienserinnen die Hauptstraße der kleinen Stadt entlang, wobei sie ständig Ausschau nach etwaigen Verfolgern hielten. Die Geschäfte waren geschlossen, aber die Bars und Restaurants hatten geöffnet, und aus ihnen drang fremdartige Musik, die misstönend, hart und rhythmisch klang.

Frater Miguel sah Schwester Teresas verständnislosen Gesichtsausdruck. »Das ist Rock ‘n’ Roll«, sagte er. »Bei der heutigen Jugend sehr beliebt.«

Zwei junge Frauen vor einer der Bars starrten die vorbeigehenden Schwestern neugierig an. Die Nonnen machten ihrerseits große Augen wegen der spärlichen Kleidung der beiden. Die eine trug einen so kurzen Rock, dass ihre Oberschenkel kaum bedeckt waren, und die andere hatte einen kniekurzen Rock mit langen Seitenschlitzen an. Dazu trugen beide ärmellose gehäkelte Tops.

Ganz nackt könnten sie auch nicht verworfener aussehen! dachte Schwester Teresa entsetzt.

In einem Hauseingang stand ein Mann, der zu einer kragenlosen Jacke einen Pullover mit rundem Ausschnitt und einen glitzernden Anhänger an einer Goldkette trug.

Aus einer Bodega schlugen ihnen unbekannte Gerüche entgegen: Rauch und Alkohol.

Megan starrte etwas auf der anderen Straßenseite an. Sie blieb stehen.

»Was ist los?« wollte Frater Miguel wissen. »Was gibt’s dort zu sehen?«

Megan beobachtete eine Frau mit einem Baby auf dem Arm. Wie viele Jahre war es schon her, dass sie keinen Säugling, auch kein Kleinkind mehr gesehen hatte? Seit dem Waisenhaus, seit vierzehn Jahren nicht mehr. Vierzehn Jahre!

Auch Schwester Teresa starrte das Baby an, aber sie dachte dabei an etwas anderes. Das ist Moniques Baby. Jetzt begann es zu schreien. Es schreit, weil ich es verlassen habe. Aber nein, das ist unmöglich. Das liegt schon dreißig Jahre zurück. Schwester Teresa wandte sich ab, aber das Schreien des Babys gellte ihr in den Ohren, als sie weitergingen.

Sie kamen an einem Kino vorbei. Auf einem Plakat wurde für den Film Liebe zu dritt geworben, und die Standfotos zeigten spärlich bekleidete Frauen, die einen Mann mit bloßem Oberkörper umarmten.

»Großer Gott, die. die sind ja fast nackt!« rief Schwester Teresa aus.

Frater Miguel runzelte die Stirn. »Richtig! Wirklich abscheulich, was die Kinos heutzutage zeigen dürfen. Dieser Film ist reine Pornographie. Die privatesten und persönlichsten Dinge werden in aller Öffentlichkeit gezeigt. So werden die Kinder Gottes zu Tieren erniedrigt.«

Sie kamen an einem Geschäft für Haushaltswaren, einem Frisiersalon, einem Blumengeschäft und einem Cafe vorbei, die alle wegen Siesta geschlossen waren. Vor jedem Schaufenster blieben die Nonnen stehen und starrten in die Auslagen mit einst vertrauten Gegenständen, an die sie sich nur noch schwach erinnerten.

»Halt!« sagte Frater Miguel, als sie ein Modegeschäft erreichten.

Die Jalousien waren heruntergelassen, und an der Ladentür verkündete ein Schild: GESCHLOSSEN.

»Wartet bitte hier auf mich.«

Die vier Frauen sahen ihm nach, als er davonging und um die nächste Ecke verschwand. Sie wechselten einen ausdruckslosen Blick. Wohin ging er - und was war, wenn er nicht zurückkam?

Wenige Minuten später hörten sie, wie die Ladentür von innen aufgesperrt wurde. Dann erschien Frater Miguel strahlend lächelnd auf der Schwelle. Er winkte sie herein. »Los, beeilt euch!«

»Haben Sie.?« fragte Lucia, als sie alle eingetreten waren und hinter sich abgesperrt hatten.

»Gott hat nicht nur einen Haupteingang, sondern auch einen Hintereingang vorgesehen«, antwortete der Mönch ernst. Aber in seiner Stimme lag ein schelmischer Unterton, der Megan ein Lächeln entlockte.

Die Schwestern sahen sich ehrfürchtig staunend in dem Laden um. Die bunte Vielfalt der Kleider, Röcke, Blusen, Pullover, Hosen, Schuhe, Stiefel und Sandalen verwirrte sie. Solche Artikel hatten sie seit vielen Jahren nicht mehr zu Gesicht bekommen. Und die Stile erschienen ihnen so fremdartig. In einer eigenen Vitrine waren Handtaschen, Seidentücher und Kosmetika ausgestellt. Unmöglich, das alles in sich aufzunehmen. Die Frauen standen sprachlos erstaunt da.

»Beeilt euch!« drängte Frater Miguel. »Wir müssen fort sein, bevor der Laden nach der Siesta wieder geöffnet wird. Bedient euch. Sucht euch aus, was euch gefällt.«

Gott sei Dank, dass du dich endlich wieder als Frau anziehen kannst, dachte Lucia. Sie trat an den ersten Kleiderständer und begann zu suchen. Schließlich entschied sie sich für einen beigen Rock und eine hellbraune Samtbluse. Nicht gerade Balenciaga, aber fürs erste muss es reichen. Danach suchte sie sich Slip, Büstenhalter und Stiefel aus weichem Leder zusammen. Sie trat hinter einen Kleiderständer, zog sich aus und war binnen weniger Minuten angezogen und marschbereit.

Die anderen trafen ihre Wahl zögernder.

Schwester Graciela entschied sich für ein weißes Leinenkleid, das ihr schwarzes Haar und ihren dunklen Teint unterstrich, und ein Paar Sandalen.

Schwester Megan wählte ein bedrucktes blaues Kattunkleid, das bis über die Knie reichte, und Schuhe mit niedrigen Absätzen.

Schwester Teresa fiel es am schwersten, sich für irgend etwas zu entscheiden. Die Auswahl war zu verwirrend. Es gab Seide, Flanell, Tweed und Leder; es gab Baumwolle, Leinen und Samt in verschiedensten Farben und Mustern. Alles wirkte so. so flittchenhaft. Drei Jahrzehnte lang war sie mit dem schweren Habit der Zister-zienserinnen anständig bekleidet gewesen. Und jetzt sollte sie die Ordenstracht ablegen und eines dieser unanständigen Fähnchen anziehen. Zuletzt nahm sie den längsten Rock, den sie finden konnte, und eine hochgeschlossene Batistbluse mit langen Ärmeln.