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»Nein, leider nicht. Aber darüber können wir noch reden.« Pater Perez griff nach Gracielas Hand. »Ich komme dich morgen wieder besuchen.«

»Danke, Pater.«

Nachdem er gegangen war, lag Graciela da und betete: Lieber Gott, lass mich sterben. Ich will nicht weiterleben.

Sie wusste nicht, wohin und zu wem sie hätte gehen können. Sie würde das Haus, in dem sie aufgewachsen war, nie wieder sehen. Sie würde ihre Schule und die vertrauten Gesichter der Lehrerinnen nie mehr sehen. Auf der ganzen Welt gab es nichts Vertrautes mehr für sie.

Eine Krankenschwester blieb an ihrem Bett stehen. »Brauchen Sie irgendwas?«

Graciela sah verzweifelt zu ihr auf. Was hätte sie sagen sollen?

Am nächsten Tag erschien der Assistenzarzt wieder an ihrem Bett.

»Ich habe eine gute Nachricht für Sie«, sagte er verlegen. »Sie haben sich so gut erholt, dass wir Sie entlassen können.« Das war gelogen, aber was er hinzufügte, war die Wahrheit. »Wir brauchen das Bett.«

Sie durfte also gehen - aber wohin?

Eine Stunde später erschien Pater Perez in Begleitung eines weiteren Geistlichen.

»Das ist mein alter Freund Pater Berrendo.«

Graciela blickte zu dem zerbrechlich wirkenden Alten auf. »Pater.«

Er hat recht, dachte Pater Berrendo. Sie ist wirklich eine Schönheit.

Pater Perez hatte ihm Gracielas Schicksal geschildert. Der Geistliche hatte erwartet, sichtbare Spuren der Umgebung, in der das Kind aufgewachsen war, auf seinem Gesicht vorzufinden: Verhärtung, Trotz oder Selbstmitleid. Aber auf dem Gesicht des Mädchens zeichnete sich nichts dergleichen ab.

»Ich bedaure, dass es Ihnen so schlecht ergangen ist, mein Kind«, sagte Pater Berrendo. Damit meinte er keineswegs nur ihren Krankenhausaufenthalt.

»Graciela, ich muss nach Las Navas del Marquas zurück«, erklärte Pater Perez ihr. »Aber Pater Berrendo hat mir versprochen, sich um dich zu kümmern.«

Graciela wurde plötzlich von panischer Angst erfasst. Sie hatte das Gefühl, ihre letzte Verbindung zu ihrer Heimat werde gekappt. »Bleiben Sie noch!« bat sie flehentlich.

Pater Perez nahm ihre Hand in seine. »Ich weiß, dass du dich verlassen fühlst«, sagte er freundlich, »aber das bist du nicht. Glaub mir, Kind, das bist du nicht.«

Eine Krankenschwester brachte ein Bündel Kleidungsstücke und legte es aufs Bett. »Hier sind Ihre Sachen. Sie müssen jetzt gehen, fürchte ich.«

Gracielas Panik verstärkte sich noch. »Jetzt gleich?«

Die beiden Geistlichen wechselten einen Blick.

»Wollen Sie sich nicht anziehen und mit mir kommen?« schlug Pater Berrendo vor. »Dann können wir miteinander reden.«

Eine Viertelstunde später trat Graciela auf Pater Ber-rendos Arm gestützt aus dem Krankenhausportal in warmen Sonnenschein hinaus. In der kleinen Anlage vor dem Krankenhaus blühten farbenprächtige Sommerblumen, aber Graciela war zu benommen, um sie überhaupt wahrzunehmen.

»Pater Perez hat mir erzählt, dass Sie nicht wissen, wohin Sie gehen sollen«, sagte Pater Berrendo, als sie sich in seinem Dienstzimmer gegenübersaßen.

Graciela nickte.

»Sie haben keine Verwandten?«

»Nur.« Es fiel ihr schwer, das zu sagen. »Nur. meine Mutter.«

»Von Pater Perez weiß ich, dass Sie in Ihrem Heimatdorf regelmäßig zur Messe gegangen sind.«

In dem Dorf, das sie nie wieder sehen würde. »Ja.«

Graciela dachte an diese Sonntagmorgen - daran, wie schön das Hochamt immer gewesen war und wie sehr sie sich gewünscht hatte, bei Jesus zu sein, ihrer Alltagspein zu entrinnen.

»Graciela, haben Sie jemals daran gedacht, ins Kloster zu gehen?«

»Nein.« Dieser Gedanke verblüffte sie.

»Hier in Avila gibt’s ein Nonnenkloster, ein Kloster der Zisterzienserinnen. Dort wären Sie gut versorgt.«

»Ich. ich weiß nicht recht.« Sie fand diese Vorstellung eher erschreckend.

»Das Klosterleben ist nicht für jeden richtig«, erklärte Pater Berrendo ihr. »Und ich muss Sie warnen, dass dies der strengste Orden überhaupt ist. Sobald Sie dort eintreten und Ihre Gelübde ablegen, haben Sie Gott versprochen, das Kloster nie mehr zu verlassen.«

Graciela, deren Kopf mit widersprüchlichen Gedanken angefüllt war, saß da und starrte aus dem Fenster. Die Vorstellung, sich gänzlich von der Welt abzusondern, hatte etwas Erschreckendes an sich. Das wäre, als wenn man freiwillig ins Gefängnis ginge. Aber was hatte die Welt ihr andererseits zu bieten? Mehr Schmerzen und Verzweiflung, als sie ertragen konnte. Sie hatte schon oft an Selbstmord gedacht. Vielleicht war dies ein Ausweg aus ihrem Elend.

»Die Entscheidung liegt bei Ihnen, mein Kind«, sagte Pater Berrendo. »Wenn Sie wollen, bringe ich Sie mit der Ehrwürdigen Mutter Äbtissin zusammen.«

Graciela nickte. »Einverstanden.«

Die Ehrwürdige Mutter studierte das Gesicht des jungen Mädchens vor sich. Letzte Nacht hatte sie zum ersten Mal seit vielen, vielen Jahren wieder die Stimme gehört. Ein Kind wird zu dir kommen. Beschütze es. »Wie alt sind Sie, meine Liebe?«

»Vierzehn.«

Sie ist alt genug. Im vierten Jahrhundert hatte ein Papst entschieden, Mädchen könnten bereits mit zwölf Jahren Nonnen werden.

»Ich habe Angst«, sagte Graciela zur Ehrwürdigen Mutter Betina.

Ich habe Angst. Diese Worte hallten in Betinas Kopf wider. Ich habe Angst...

Das war vor vielen Jahrzehnten gewesen. Damals hatte sie mit ihrem Pfarrer gesprochen. »Ich weiß nicht, ob ich dazu berufen bin, Pater. Ich habe Angst.«

»Betina, der erste Kontakt mit Gott kann beunruhigend sein, und die Entscheidung, Ihr Leben ihm zu weihen, ist schwierig.«

Wie habe ich meine Berufung gefunden! hatte Betina sich gefragt.

Sie war niemals auch nur andeutungsweise an Glaubensdingen interessiert gewesen. Nach der Erstkommunion hatte sie vielmehr versucht, sich vor jedem Gottesdienstbesuch zu drücken. Als Teenager hatte sie sich mehr für Mode, Partys und Jungen interessiert. Wären ihre Freundinnen in Madrid aufgefordert worden, potentielle Kandidatinnen für den Beruf einer Ordensschwester zu benennen, hätte Betina auf ihrer Liste ganz unten gestanden. Oder genauer gesagt: Sie wäre nicht einmal auf ihrer Liste erschienen. Aber als sie neunzehn Jahre alt war, begannen Dinge zu passieren, die dann ihr Leben veränderten.

Sie lag schlafend in ihrem Bett, als eine Stimme sagte:

»Betina, steh auf und geh nach draußen.«

Sie öffnete die Augen und setzte sich erschrocken auf. Dann machte sie Licht. Sie war allein. Was für ein seltsamer Traum!

Aber die Stimme hatte so echt geklungen. Sie sank wieder aufs Kopfkissen zurück, fand jedoch keinen Schlaf mehr.

Betina, steh auf und geh nach draußen.

Das ist mein Unterbewusstsein, dachte sie. Weshalb sollte ich mitten in der Nacht nach draußen gehen wollen?

Sie knipste ihre Nachttischlampe aus und schaltete sie im nächsten Augenblick wieder ein. Das ist doch verrückt!

Aber sie zog Bademantel und Hausschuhe an und stieg die Treppe hinunter. Das ganze Haus schlief fest.

Sie öffnete die Küchentür. Dabei empfand sie plötzlich Angst, weil sie spürte, dass sie auf den Hof hinter dem Haus hinausgehen sollte. Sie sah sich dort um und wurde im Mondschein auf einen ausrangierten alten Kühlschrank aufmerksam, der als Werkzeugschrank diente.

Betina wusste plötzlich, weshalb sie hier war. Sie trat wie hypnotisiert an den Kühlschrank und öffnete die Tür. Im Schrank entdeckte sie ihren dreijährigen kleinen Bruder, der bereits bewusstlos war.

Dies war der erste unerklärliche Vorfall. Im Laufe der Zeit deutete Betina ihn jedoch als völlig normales Ereignis. Ich muss gehört haben, wie mein Bruder auf ge standen und auf den Hof gegangen ist, und weil ich gewusst habe, dass dort der alte Kühlschrank gestanden hat, und ich mir Sorgen um den Kleinen gemacht habe, bin ich hinausgegangen, um nach ihm zu sehen.