Der nächste Vorfall war weniger leicht zu erklären. Er passierte einen Monat später.
Betina hörte im Schlaf eine Stimme sagen: »Du musst das Feuer löschen.«
Sie setzte sich hellwach und mit jagendem Puls im Bett auf. Auch diesmal konnte sie nicht wieder einschlafen. Sie zog ihren Bademantel an und trat in den Flur hinaus. Kein Rauch. Kein Feuer. Sie öffnete die Tür des Elternschlafzimmers. Dort schien alles normal zu sein. Auch im Zimmer ihres Bruders brannte es nicht. Sie ging nach unten und kontrollierte sämtliche Räume im Erdgeschoß. Nirgends Rauch oder Brandgeruch.
Ich bin eine Idiotin, dachte Betina. Das ist nur ein Traum gewesen.
Als sie eben wieder im Bett lag, wurde das Haus durch eine Explosion erschüttert. Die Familie konnte sich retten, und die Feuerwehr hatte den Brand bald unter Kontrolle.
»Eine Gasexplosion im Keller«, stellte ein Feuerwehrmann fest. »Die Leitung muss undicht geworden sein.«
Der nächste Vorfall ereignete sich etwa drei Wochen später. Diesmal hing er nicht mit einem Traum zusammen.
Betina saß lesend auf der Veranda, als sie einen Fremden durch den Garten gehen sah. Er erwiderte ihren Blick, und sie nahm deutlich seine fast mit Händen greifbare bösartige Ausstrahlung wahr. Der Unbekannte wandte sich ab und war im nächsten Augenblick verschwunden.
Betina konnte ihn nicht aus ihrem Gedächtnis tilgen.
Drei Tage später wartete sie in einem Verwaltungsgebäude auf den Lift. Die Aufzugstür öffnete sich, und Betina wollte eben die Kabine betreten, als ihr Blick auf den Fahrstuhlführer fiel. Es war der Mann, den sie in ihrem Garten gesehen hatte. Betina trat erschrocken zurück. Die Tür schloss sich, und der Lift fuhr weiter nach oben. Sekunden später stürzte er in die Tiefe, wobei alle Fahrgäste den Tod fanden.
Am Sonntag danach ging Betina in die Kirche.
Lieber Gott, ich weiß nicht, was hier vorgeht, und habe Angst. Bitte, führe mich und sage mir, was du von mir erwartest.
Die Antwort kam in dieser Nacht, als Betina schlief. Die Stimme sagte nur ein Wort. Hingabe.
Sie dachte die ganze Nacht darüber nach und suchte am nächsten Morgen ihren Pfarrer auf.
Der Geistliche hörte ihr aufmerksam zu.
»Ah, Sie gehören zu den Glücklichen. Sie sind auserwählt worden.«
»Wozu auserwählt?«
»Sind Sie bereit, Ihr Leben Gott zu weihen, mein Kind?«
»Ich. ich weiß nicht. Ich habe Angst.«
Aber zuletzt war sie doch ins Kloster eingetreten.
Ich habe den rechten Pfad gewählt, dachte Ehrwürdige Mutter Betina, denn ich habe nie zuvor soviel Glück erfahren.
Und jetzt sagte dieses misshandelte Kind stockend: »Ich habe Angst.«
Die Ehrwürdige Mutter nahm Gracielas Hand in die ihre. »Lass dir Zeit, Graciela. Gott wartet auf dich. Wenn du darüber nachgedacht hast, kommst du zurück, und wir besprechen alles.«
Aber was gab es da nachzudenken? Ich wüsste nicht, wo ich sonst hingehen sollte, dachte Graciela. Und die Stille würde ihr willkommen sein. Ich habe zu viele schreckliche Laute gehört. Sie erwiderte den Blick der Ehrwürdigen Mutter und sagte: »Ich freue mich auf das Schweigen.«
Das war vor siebzehn Jahren gewesen, und in dieser Zeit hatte Graciela zum ersten Mal innerlichen Frieden gefunden. Ihr Leben war Gott geweiht. Ihre Vergangenheit bedrückte sie nicht mehr. Sie hatte Vergebung für die Schrecken erlangt, mit denen sie aufgewachsen war. Sie war eine Braut Christi, der sie nach ihrem Tode zu sich holen würde.
Trotz gelegentlicher Alpträume verstummten die schrecklichen Laute in ihrem Kopf allmählich, während die Jahre in tiefem Schweigen vergingen.
Schwester Graciela wurde für die Arbeit im Blumengarten eingeteilt, wo sie die winzigen Regenbogen von Gottes Wunder hegte, ohne sich an ihrer Pracht jemals satt sehen zu können. Die Mauern des Klosters umgaben sie auf allen Seiten wie hohe Felsklippen, aber Graciela fühlte sich niemals von ihnen eingeschlossen; sie schlossen die Welt aus - eine schreckliche Welt, die sie nie wieder sehen wollte.
Das Leben im Kloster war heiter und friedlich gewesen. Aber jetzt waren ihre schrecklichen Alpträume plötzlich real geworden. In ihre Welt waren Barbaren eingedrungen. Sie hatten sie aus ihrem Zufluchtsort in die Welt hinausgetrieben, der sie für immer entsagt hatte. Und ihre Sünden überfielen sie wieder und erfüllten sie mit Entsetzen. Der Maure war zurückgekehrt. Sie spürte seinen heißen Atem auf ihrem Gesicht. Während sie sich gegen ihn wehrte, öffnete sie die Augen und sah, dass der Frater in sie einzudringen versuchte. »Lass das Sträuben, Schwester!« keuchte er. »Du wirst sehen, dass es Spaß macht!«
»Mama!« rief Graciela laut. »Hilf mir, Mama!«
7
Lucia Carmine fühlte sich wunderbar, als sie mit Me-gan und Teresa die Straße hinunterging. Es war herrlich, wieder modisch gekleidet zu sein und das leise Knistern von Seide auf der Haut zu spüren. Aus dem Augenwinkel heraus beobachtete sie die beiden anderen. Sie bewegten sich nervös, wirkten in ihrer neuen Aufmachung gehemmt und waren wegen ihrer kurzen Röcke und Nylonstrümpfe sichtlich verlegen.
Sie sehen aus, als stammten sie von einem anderen Planeten, dachte Lucia. Auf diesem hier sind sie jedenfalls nicht zu Hause. Ebenso gut könnten sie Schilder mit der Aufschrift »Fang mich!« hochhalten.
Am unwohlsten von den drei Frauen fühlte sich Schwester Teresa. Dreißig Jahre Klosterleben hatten ihr ein tiefes Gefühl für Sittsamkeit vermittelt, das jetzt durch die ihr aufgezwungenen Ereignisse gröblichst verletzt wurde. Diese Welt, der sie einst angehört hatte, erschien ihr jetzt unwirklich. Nur das Kloster war real, und sie sehnte sich danach, so rasch wie möglich in den Schutz seiner undurchdringlichen Mauern zurückkehren zu dürfen.
Megan nahm wahr, dass Männer sie auf der Straße anstarrten, und wurde rot. Sie hatte so lange in einer Frauenwelt gelebt, dass sie vergessen hatte, wie es war, einen Mann zu sehen oder gar von einem angelächelt zu werden. Es war peinlich, unanständig und. aufregend. Die Männer weckten Gefühle in ihr, die lange verschüttet gewesen waren. Zum ersten Mal seit vielen Jahren war sie sich wieder ihrer Weiblichkeit bewusst.
Sie kamen an der Bar vorbei, aus der wilde Musik auf die Straße dröhnte. Wie hatte Frater Miguel sie genannt? Rock ‘n ’ Roll. Bei der heutigen Jugend sehr beliebt. Irgendetwas beunruhigte sie. Und plötzlich wusste Megan, was es war. Als sie an dem Kino vorbeigegangen waren, hatte der Frater gesagt: Wirklich abscheulich, was die Kinos heutzutage zeigen dürfen. Dieser Film ist reine Pornographie. Die privatesten und persönlichsten Dinge werden in aller Öffentlichkeit gezeigt.
Megans Herz begann rascher zu schlagen. Wie konnte Frater Miguel Rockmusik und den Inhalt dieses Films kennen, wenn er zwanzig Jahre lang in einem Kloster gelebt hatte? Irgendetwas war hier ganz entschieden nicht in Ordnung!
Sie wandte sich an Lucia und Teresa. »Wir müssen sofort in den Laden zurück!« drängte sie.
Die beiden sahen, wie Megan kehrtmachte und davon hastete, und beeilten sich, ihr zu folgen.
Graciela lag auf dem Boden, kämpfte verzweifelt, um sich zu befreien, und krallte und kratzte wie eine Wilde.
»Halt still, verdammt noch mal!« Carrillo geriet allmählich außer Atem.
Er hörte ein Geräusch und hob den Kopf. Er sah noch einen Schuhabsatz auf seine Stirn zukommen, dann wurde es dunkel um ihn.