Sie würde es vom Ladentisch nehmen. Lieber verkaufe ich erst mich selbst.
Hundertfünfzigtausend Peseten.
Lieber lasse ich’s einschmelzen und das Gold in den Rinnstein laufen.
Zweihunderttausend Peseten. Mein letztes Wort!
Das ist Straßenraub, aber ich nehme das Geld.
Der Pfandleiher würde gierig nach dem Kruzifix greifen.
Unter einer Bedingung.
Welcher?
Ich habe meinen Reisepass verloren. Kennen Sie jemand, der mir einen beschaffen kann? Sie würde das Kruzifix noch immer nicht aus den Händen geben.
Er würde zögern und schließlich sagen: Ich habe zufällig einen Freund, der auf solche Dinge spezialisiert ist.
Und sie würden handelseinig werden: zweihunderttausend Peseten und ein neuer Pass. Damit stand Lucia der Weg in die Schweiz und in die Freiheit offen. Sie erinnerte sich an die Worte ihres Vaters: Auf dem Konto ist mehr Geld, als du in zehn Leben ausgeben kannst.
Die Augen fielen ihr zu. Der Tag war verdammt anstrengend gewesen.
Im Halbschlaf hörte Lucia die Kirchenglocken der fernen Stadt. Sie riefen Erinnerungen an einen anderen Ort, an eine andere Zeit in ihr wach.
8
Taormina, Sizilien 1968
Sie wurde jeden Morgen von den Glocken der Kirche San Domenico geweckt, die hoch auf den Taormina umgebenden Peloritani stand. Sie genoss es, langsam aufzuwachen und sich träge wie eine Katze zu strecken. Sie behielt die Augen geschlossen, weil sie wusste, dass es etwas Wunderbares gab, woran sie sich erinnern konnte.
Was war es nur?
Die Antwort drängte sich ihr auf, aber sie stieß sie zurück, weil sie sie noch nicht wissen, weil sie die Überraschung genießen wollte. Und dann überflutete das Glücksgefühl sie plötzlich. Sie war Lucia Maria Carmine, die Tochter Angelo Carmines, und das genügte, um jedes Mädchen glücklich zu machen.
Die fünfzehnjährige Lucia wohnte in einer riesigen Traumvilla mit mehr Personal, als sie zählen konnte. Jeden Morgen wurde sie von einem Leibwächter in einer gepanzerten Limousine in die Schule gefahren. Sie wuchs mit den schönsten Spielsachen und den hübschesten Kleidern Siziliens auf und wurde von ihren Schul-freundinnen glühend beneidet.
Trotzdem stand Lucias Vater im Mittelpunkt ihres Lebens. In ihren Augen war er der bestaussehende Mann der Welt. Er war klein und stämmig und besaß ein energisches Gesicht mit kraftvoll blitzenden braunen Augen. Angelo Carmine hatte zwei Söhne - Arnaldo und Vitto-rio -, aber seine Tochter war sein Liebling. Und Lucia betete ihn an. Wenn der Pfarrer in der Kirche von Gott sprach, dachte sie stets an ihren Vater.
Morgens kam er an ihr Bett und sagte: »Aufstehen, sonst kommst du zu spät zur Schule, faccia d’ angelo.« Engelsgesicht.
Das stimmte natürlich nicht. Lucia wusste, dass sie nicht wirklich schön war. Du bist attraktiv, dachte sie, während sie sich objektiv im Spiegel betrachtete. Ja -nicht schön, aber sehr attraktiv. Der Spiegel zeigte ihr ein junges Mädchen mit ovalem Gesicht, makellosem Teint, gleichmäßigen weißen Zähnen, energischem Kinn - zu energisch? -, vollen Lippen - zu voll? - und dunklen, wissenden Augen. Was ihrem Gesicht vielleicht zu wahrer Schönheit fehlte, machte ihr Körper jedoch mehr als wett. Mit fünfzehn hatte Lucia den Körper einer Frau mit großen, festen Brüsten, schmaler Taille und schwellenden Hüften, die Sinnenfreuden versprachen.
»Wir werden dich frühzeitig verheiraten müssen«, neckte ihr Vater sie gelegentlich. »Die jungen Männer werden bald pazzo sein, wenn sie dich sehen, meine kleine Jungfrau.«
»Ich möchte einen Mann wie dich, Papa, aber es gibt keinen wie dich.«
Ihr Vater lachte. »Keine Angst, wir finden einen Märchenprinzen für dich. Du bist unter einem Glücksstern geboren, und eines Tages wirst du wissen, wie es ist, von einem Mann in den Armen gehalten und geliebt zu werden.«
»Ja, Papa«, sagte Lucia und errötete.
Es stimmte, dass sie von keinem Mann geliebt worden war - seit zwölf Stunden nicht mehr. Wenn ihr Vater auf Geschäftsreise war, kam Benito Patas, einer ihrer Leibwächter, regelmäßig in ihr Bett. Dass Benito sie in ihrem Haus liebte, machte alles um so aufregender, denn Lucia wusste, dass ihr Vater sie beide umgebracht hätte, hätte er sie dabei ertappt.
Benito war Anfang Dreißig und fühlte sich geschmeichelt, dass die schöne jungfräuliche Tochter des großen Angelo Carmine sich gerade von ihm hatte entjungfern lassen.
»Ist’s so gewesen, wie du’s dir gedacht hast?« fragte er sie, nachdem sie zum ersten Mal mit ihm geschlafen hatte.
»O ja!« flüsterte Lucia. »Besser.«
Obwohl er nicht so gut wie Paolo, Mario, Tony oder Enrico ist, dachte sie, ist er jedenfalls besser als Leo und Roberto. An die Namen all ihrer sonstigen Liebhaber konnte sie sich nicht mehr erinnern.
Mit dreizehn hatte Lucia das Gefühl gehabt, lange genug eine Jungfrau gewesen zu sein. Sie hatte Umschau gehalten und entschieden, der Glückliche solle Paolo Costello sein, der Sohn von Angelo Carmines Hausarzt. Paolo war siebzehn, groß gewachsen, athletisch und der Starfußballer seiner Schule.
Lucia hatte sich auf den ersten Blick in Paolo verliebt und es seitdem geschafft, ihm bei allen möglichen Gelegenheiten immer wieder über den Weg zu laufen. Paolo wäre nie auf die Idee gekommen, ihre »zufälligen« Begegnungen könnten sorgfältig geplant sein. In seinen Augen war die attraktive Tochter Angelo Carmines noch ein Kind. Aber an einem heißen Augusttag hatte Lucia nicht länger warten wollen. Sie hatte Paolo angerufen.
»Paolo, hier ist Lucia Carmine. Mein Vater möchte etwas mit dir besprechen und lässt dich fragen, ob du heute Nachmittag in unseren Pavillon am Swimming-pool kommen könntest.«
Paolo war überrascht und erfreut zugleich. Er hatte großen Respekt vor Angelo Carmine und nicht einmal gewusst, dass der mächtige Mafioso von seiner Existenz Kenntnis genommen hatte. »Mit Vergnügen!« antwortete er eifrig. »Wann soll ich denn kommen?«
»Um fünfzehn Uhr.«
Während der Siesta, wenn alle Welt schlief. Der Pavillon am Swimming-pool stand weit von ihrer Villa entfernt, und ihr Vater war verreist. Unliebsame Störungen waren also ausgeschlossen.
Paolo erschien pünktlich zur vereinbarten Zeit. Das Parktor stand offen, und er ging sofort zum Pavillon. Vor der geschlossenen Tür blieb er stehen und klopfte an. »Signore Carmine? Pronto...?«
Keine Antwort. Paolo sah auf seine Uhr. Dann öffnete er vorsichtig die Tür und trat ein. Im Pavillon war es bei heruntergelassenen Jalousien dunkel.
»Signore Carmine?«
Eine Gestalt kam auf ihn zu. »Paolo.«
Er erkannte Lucias Stimme. »Lucia, ich suche deinen Vater. Ist er hier?«
Sie stand jetzt dicht vor ihm - so dicht, dass Paolo erkennen konnte, dass sie splitterfasernackt war.
»Großer Gott!« ächzte Paolo. »Was.?«
»Ich möchte, dass du mich liebst.«
»Du bist japazza! Du bist noch ein Kind. Ich haue lieber ab!« Er wollte zur Tür.
»Geh nur! Ich erzähle meinem Vater, dass du mich vergewaltigt hast.«
»Nein, das tust du nicht!«
»Wenn du gehst, wirst du’s erleben.«
Paolo blieb stehen. Er wusste genau, was ihm blühte, falls Lucia ihre Drohung wahr machte. Die Kastration war dann nur der Anfang.
Er kam zu Lucia zurück, um vernünftig mit ihr zu reden. »Liebste Lucia.«
»Mir gefällt’s, wenn du Liebste zu mir sagst.«
»Nein. Hör zu, Lucia, diese Sache ist todernst. Dein Vater bringt mich um, wenn du behauptest, ich hätte dich vergewaltigt.«