Zu »Ole«-Rufen der erregten Menge rasten die Stiere die ganze Straße entlang - an der Calle Laestrafeta und der Calle de Javier vorbei, vorbei an Apotheken, Textilgeschäften und Obstläden - auf die Plaza de Hemingway zu. Sobald die Tiere herandonnerten, begann eine wilde Flucht vor ihren spitzen Hörnern und tödlichen Hufen. Die plötzliche Realität des herannahenden Todes brachte einige Teilnehmer dazu, sich in Hauseingänge und auf Feuertreppen zu flüchten. Der Schmähruf »Cobardon!« -Feigling - verfolgte sie dorthin. Hier und da stolperten Männer und stürzten vor die heranrasenden Stiere und wurden rasch in Sicherheit geschleppt.
Ein kleiner Junge und sein Großvater standen hinter einer der Barrieren: beide atemlos vor Aufregung wegen des Schauspiels, das sich unmittelbar vor ihnen ereignete.
»Sieh sie dir an!« rief der Alte aus. »Magnifico!«
Der kleine Junge fuhr zusammen. »Tengo miedo, Abue-lo. Ich hab’ Angst.«
Der Alte legte ihm einen Arm um die Schultern. »Si, Manolo. Es ist erschreckend - aber auch wundervoll. Ich bin einmal mit den Stieren gerannt. Das lässt sich mit nichts vergleichen. Man trotzt dem Tod und fühlt sich danach als richtiger Mann.«
Normalerweise brauchten die Stiere etwa zwei Minuten für die gut achthundert Meter die Calle Santo Domingo entlang bis zur Arena; und sobald sie sicher im Korral eingesperrt waren, würde eine weitere Rakete abgeschossen werden. An diesem Tag stieg die dritte Rakete jedoch nicht auf, denn es kam zu einem in der vierhundertjährigen Geschichte des Stiertreibens in Pamplona noch nie da gewesenen Vorfall.
Während die Tiere die schmale Straße entlang rasten, verschob ein halbes Dutzend Männer in farbenprächtigen Feria-Kostümen die hölzernen Barrieren. Statt auf der abgesperrten Calle Santo Domingo befanden die Stiere sich plötzlich im Stadtzentrum in Freiheit. Was eben noch eine unbekümmerte Feier gewesen war, verwandelte sich in einen Alptraum: die wütenden Stiere griffen mit gesenkten Hörnern die verwirrten Zuschauer an.
Der kleine Junge und sein Großvater gehörten zu den ersten, die von den Stieren überrannt und getötet wurden. Gefährlich spitze Hörner bohrten sich in einen Kinderwagen, durchbohrten ein Baby und warfen seine Mutter zu Boden, wo sie zertrampelt wurde. Die Tiere walzten hilflose Zuschauer nieder, brachten Frauen und Kinder zu Fall, spießten mit ihren langen tödlichen Hörnern Fußgänger, Imbissstände und Obstkarren auf und schleuderten alles beiseite, was das Pech hatte, ihnen in die Quere zu geraten. Entsetzt aufschreiende Menschen bemühten sich verzweifelt, sich vor den tobenden Ungeheuern in Sicherheit zu bringen.
Plötzlich erschien ein feuerroter Lastwagen vor den Stieren, die sofort die Calle de Estrella - die zum Carcel, dem Gefängnis Pamplonas, führende Straße - entlang zum Angriff übergingen.
Das Carcel ist ein bedrohlich wirkendes einstöckiges Steingebäude mit schwer vergitterten Fenstern. An seinen vier Ecken ragen Türme auf; über dem Eingang hängt die rot-gelbe spanische Flagge. Unter einem steinernen Torbogen führt ein Holztor in den kleinen Gefängnishof. Im ersten Stock des Gebäudes liegt eine Reihe von Zellen für zum Tode verurteilte Häftlinge.
Im Gefängnisinneren führte ein untersetzter Aufseher in der Uniform der Policia Armada einen Geistlichen in schlichter schwarzer Soutane durch den Gang im ersten Stock. Der Polizeibeamte war mit einer Maschinenpistole bewaffnet.
»Hier kann man nicht vorsichtig genug sein, Pater«, sagte der Aufseher, als er den fragenden Blick sah, mit dem der Geistliche seine Waffe betrachtete. »In diesem Stock bewachen wir den Abschaum der Erde.«
Er blieb stehen und machte dem Geistlichen ein Zeichen, durch einen Metalldetektor zu gehen, der den auf Flughäfen benützten Geräten glich.
»Tut mir leid, Pater, aber die Vorschriften.« »Natürlich, mein Sohn.«
Als der Geistliche durch den Detektor trat, heulte eine schrille Sirene los. Der Uniformierte umklammerte instinktiv seine Waffe.
Der Geistliche drehte sich um und lächelte den Aufseher beruhigend an.
»Meine Schuld«, sagte er, nahm das an einer Silberkette um seinen Hals hängende schwere Bronzekreuz ab und hielt es dem Polizeibeamten zur Verwahrung hin. Diesmal blieb die Sirene stumm, als er den Detektor durchschritt. Der Aufseher gab ihm das Kreuz zurück, und die beiden setzten ihren Weg ins Innerste des Gefängnisses fort.
Der Gestank im Korridor in der Nähe des Zellenblocks war fast unerträglich.
Der Uniformierte war in philosophischer Stimmung. »Wissen Sie, eigentlich vergeuden Sie hier Ihre Zeit, Pater. Diese Tiere haben keine Seele, die Sie retten könnten.«
»Trotzdem müssen wir’s versuchen, mein Sohn.«
Der Aufseher schüttelte den Kopf. »Auf beide wartet das Fegefeuer, sage ich Ihnen.«
Der Geistliche starrte ihn überrascht an. »Auf beide?« wiederholte er. »Mir hat man gesagt, hier warteten drei darauf, dass ich ihnen die Beichte abnehme.«
Der Polizeibeamte zuckte mit den Schultern. »Wir haben Ihnen etwas Zeit erspart. Zamora ist heute morgen in der Krankenabteilung gestorben. Herzschlag.«
Die Männer hatten die beiden letzten Zellen erreicht.
»Hier müssen wir hin, Pater.«
Der Uniformierte schloss eine Zellentür auf und trat dann vorsichtig zurück, während der Geistliche die Zelle betrat. Er sperrte hinter ihm ab, blieb im Korridor stehen und horchte auf irgendeinen Laut, der auf ungebührliches Betragen des Häftlings hätte schließen lassen.
Der Geistliche trat auf den Mann zu, der auf einer schmutzigen Gefängnispritsche lag. »Dein Name, mein Sohn?«
»Ricardo Mellado.«
Der Geistliche starrte auf ihn hinab. Wie der Mann aussah, war schwer zu beurteilen. Sein Gesicht war geschwollen und verfärbt, seine Augen waren fast zugequollen. »Ich bin froh, dass Sie kommen konnten, Pater«, sagte er mit dicken Lippen.
»Die Kirche hat die Pflicht, zu deiner Erlösung beizutragen, mein Sohn«, antwortete der Geistliche.
»Ich soll also heute morgen gehenkt werden?«
Der Geistliche legte ihm tröstend eine Hand auf die Schulter. »Du bist zum Tode durch die Garrotte verurteilt worden.«
Ricardo Mellado starrte erschrocken zu ihm auf. »Nein!«
»Tut mir leid, das hat der Ministerpräsident angeordnet.«
Der Geistliche legte seine Rechte auf den Kopf des Häftlings und intonierte: »Di me tuspecados...«
»Ich habe in Gedanken, Worten und Taten schwer gesündigt«, bekannte Ricardo Mellado, »und bereue alle meine Sünden von ganzem Herzen.«
»Ruego a nuestro Padre celestialpor la salvacion de tu ama. In el nombre del Padre, delHijo y el Espiritu Santo.«
Der draußen vor der Zelle horchende Aufseher dachte: Was für eine dämliche Zeitverschwendung! Den lässt Gott doch in der Hölle braten!
Der Geistliche war fertig. »Adios, mein Sohn. Möge Gott deine Seele in Frieden empfangen.«
Der Polizeibeamte öffnete dem Geistlichen die Zellentür, trat sofort wieder zurück, ließ aber seine Waffe auf den Häftling gerichtet. Nachdem die Tür wieder abgesperrt war, wandte sich der Aufseher der nächsten Zellentür zu und schloss sie auf.
»Bitte sehr, Pater.«
Der Geistliche betrat die zweite Zelle. Auch ihr Insasse war schwer misshandelt worden. Der Besucher starrte ihn lange an. »Wie heißt du, mein Sohn?«