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In Lucias Augen waren ihr Vater und ihre Brüder musterhafte Staatsbürger. Den Beweis dafür lieferten die Freunde Angelo Carmines. Was für hochgestellte Persönlichkeiten sich an seinem Tisch versammelten, wenn er einmal in der Woche ein großes Diner gab! Der Oberbürgermeister, mehrere Stadträte und ein, zwei Richter saßen mit dem Polizeichef und gelegentlich einem Monsignore zwischen Filmstars und Opernsängern. Mehrmals im Jahr gab sich auch der Regierungspräsident die Ehre.

Lucia führte ein idyllisches Leben mit Partys, schönen Kleidern, Juwelen, Luxusautos, Dienstboten und einflussreichen Freunden. Aber an einem Februartag, ihrem einundzwanzigsten Geburtstag, endete das alles abrupt.

Das Ende kündigte sich scheinbar harmlos an. Zwei Männer erschienen in der Villa und wünschten ihren Vater zu sprechen. Der eine war sein Freund, der Polizeichef; der andere war sein Stellvertreter.

»Ich bitte vielmals um Entschuldigung, Padrone«, begann der Polizeichef, »aber der Polizeipräsident besteht auf der Einhaltung einer dummen Formalität. Wenn Sie so freundlich sein wollen, uns jetzt aufs Revier zu begleiten, Padrone, sorge ich dafür, dass Sie rechtzeitig zur Geburtstagsfeier Ihrer Tochter zurück sind.«

»Kein Problem«, sagte Angelo Carmine freundlich. »Sie tun schließlich nur Ihre Pflicht.« Er grinste. »Dieser neue von Rom ernannte Polizeipräsident ist ein ganz Eifriger, was?«

»Ja, das stimmt leider.« Der Polizeichef seufzte. »Aber machen Sie sich seinetwegen keine Sorgen. Sie und ich haben solche lästigen Leute oft genug kommen und sehr schnell wieder gehen sehen, stimmt’s, Padrone?«

Die Männer verließen lachend das Haus.

Angelo Carmine kam weder an diesem Abend zur Party noch am nächsten Tag wieder heim. Tatsächlich sah er keines seiner Häuser jemals wieder. Die gegen ihn erhobene Anklage warf ihm über hundert Verbrechen wie Mord, Drogenhandel, Zuhälterei, Brandstiftung und Dutzende von weiteren Straftaten vor. Eine Haftentlassung gegen Kaution wurde abgelehnt. Die Polizei fahndete nach Carmines Leuten und nahm die meisten von ihnen fest. Er hatte damit gerechnet, seine einflussreichen sizi-lianischen Freunde würden erreichen, dass die Anklage niedergeschlagen wurde, aber stattdessen wurde er mitten in der Nacht nach Rom abtransportiert und dort ins berüchtigte Gefängnis Regina Coeli gesteckt. Das war empörend! Geradezu unglaublich!

Anfangs war Carmine noch der Überzeugung, dass Tommaso Contorno, sein Rechtsanwalt, ihn sehr bald freibekommen werde.

Als der Anwalt ihn im Gefängnis besuchte, wütete Carmine: »Sie haben meine Bordelle geschlossen, meinen Drogenhandel zum Erliegen gebracht und wissen alles über meine Geldwaschtricks! Irgendjemand muss ausgepackt haben. Bringt mir seine Zunge!«

»Machen Sie sich keine Sorgen, Padrone«, beschwichtigte Contorno ihn. »Keine Angst, wir finden ihn.«

Sein Optimismus erwies sich als unbegründet. Um die Belastungszeugen zu schützen, weigerte die Staatsanwaltschaft sich kategorisch, ihre Namen vor Prozeßbeginn bekannt zu geben.

Zwei Tage vor Prozeßbeginn wurden Carmine und seine Mafiosi in das Hochsicherheitsgefängnis Rebibbia Prigione, zwanzig Kilometer außerhalb Roms verlegt. Ein in der Nähe liegendes Gerichtsgebäude war festungsartig ausgebaut worden. Die hundert -achtundfünfzig Mafiosi wurden in Handschellen und Ketten durch einen unterirdischen Gang in den Saal geführt und in dreißig Käfige mit Stahlgittern und Panzerglas gesperrt. Das Gebäude wurde scharf bewacht, und Prozessbeobachter mussten sich einer Leibesvisitation unterziehen, bevor sie den Gerichtssaal betreten durften.

Als Angelo Carmine in den Saal geführt wurde, machte sein Herz einen Freudensprung, denn der Vorsitzende Richter war Giovanni Buscetta, der seit über einem Jahrzehnt in seinem Sold stand und häufig in seinem Haus zu Gast gewesen war. Bei seinem Anblick wusste Carmine, dass die Gerechtigkeit nun endlich ihren Lauf nehmen würde.

Das Verfahren wurde eröffnet. Angelo Carmine vertraute darauf, dass die Omerta, die sizilianische Schweigepflicht, ihn schützen würde. Aber zu seiner Verblüffung war der Hauptbelastungszeuge kein anderer als sein Leibwächter Benito Patas. Patas hatte der Familie Carmine so lange treu gedient, dass er selbst an vertraulichen Besprechungen hatte teilnehmen dürfen, und da bei diesen Gelegenheiten alle nur vorstellbaren Straftaten besprochen worden waren, war Patas ein für die Anklagebehörde höchst wertvoller Zeuge.

Die Polizei hatte Benito Patas, der den neuen Freund seiner Geliebten kaltblütig erstochen hatte, schon wenige Minuten nach der Tat festgenommen. Als der Staatsanwalt ihm mit lebenslänglicher Haft gedroht hatte, war Patas widerstrebend bereit gewesen, gegen Carmine auszusagen, um mit einer leichteren Strafe davonzukommen. Jetzt saß Carmine auf der Anklagebank und musste ungläubig entsetzt mit anhören, wie Patas als Belastungszeuge die größten Geheimnisse seines Imperiums preisgab.

Auch Lucia war jeden Tag im Gerichtssaal und hörte zu, wie der Mann, der ihr Liebhaber gewesen war, ihren Vater und ihre Brüder zugrunde richtete.

Mit Benito Patas’ Aussage war der Damm gebrochen. Nun meldeten sich Dutzende von Zeugen, um zu schildern, was Angelo Carmine und seine Mafiosi ihnen angetan hatten. Die Mafia hatte ganze Geschäftszweige unter ihre Kontrolle gebracht, Schutzgelder erpresst, Frauen zur Prostitution gezwungen, Widerspenstige zu Invaliden gemacht oder ermordet und unzählige junge Menschen in die Drogenabhängigkeit getrieben. Die Liste ihrer Untaten war endlos lang.

Noch schädlicher für Angelo Carmine und seine Söhne waren die Zeugenaussagen der Pentiti - reumütiger ehemaliger Mafiosi, die auszupacken beschlossen hatten.

Lucia durfte ihren Vater im Gefängnis besuchen.

Er begrüßte sie fröhlich, umarmte sie und flüsterte dabei: »Mach dir keine Sorgen, facda del angelo. Richter Buscetta ist mein Trumpf im Ärmel. Er kennt alle Tricks und Gesetzeslücken. Er sorgt dafür, dass ich und deine Brüder freigesprochen werden oder mit ein paar Jahren Haft davonkommen.«

Angelo Carmine erwies sich als schlechter Prophet.

Die italienische Öffentlichkeit war über die Exzesse der Mafia empört, und als es um die Festsetzung des Strafmaßes ging, verurteilte Richter Giovanni Buscetta, der politische Strömungen feinfühlig registrierte, die Mafiosi zu langen Haftstrafen. Carmine und seine Söhne erhielten die nach italienischem Recht mögliche Höchststrafe: lebenslänglich, was achtundzwanzig Jahren Gefängnis entsprach.

Für Angelo Carmine kam das einem Todesurteil gleich.

Ganz Italien jubelte. Endlich hatte die Gerechtigkeit triumphiert! Aber für Lucia war das alles ein unvorstellbarer Alptraum. Die drei Männer, die sie am meisten liebte, waren dazu verdammt worden, in einer Hölle weiterzuleben.

Lucia durfte ihren Vater erneut in der Haft besuchen. Die Veränderung, die über Nacht in ihm vorgegangen war, brach ihr fast das Herz. Binnen weniger Tage war er ein alter Mann geworden. Er ließ Kopf und Schultern hängen, und seine sonst so rosig gesunde Gesichtsfarbe war blässlich geworden.

»Sie haben mich verraten«, jammerte er, »sie haben mich alle verraten. Richter Buscetta - ich habe ihn in der Tasche gehabt, Lucia! Durch mich ist er reich geworden, und jetzt hat er mir das angetan. Und Benito Patas. Ich bin wie ein Vater zu ihm gewesen. Wie kann man so tief sinken? Gibt’s denn kein Ehrgefühl mehr? Sie sind doch Sizilianer wie ich!«

Lucia ergriff die Hand ihres Vaters. »Und ich bin Sizilianerin, Papa«, sagte sie leise. »Du sollst deine Rache haben, das schwöre ich dir bei meinem Leben.«

»Mein Leben ist vorbei«, erklärte er ihr trübselig. »Aber du hast deines noch vor dir. Ich habe ein Nummernkonto bei der Züricher Bank Leu. Darauf ist mehr Geld, als du in zehn Leben ausgeben kannst.« Er flüsterte ihr die Kontonummer ins Ohr. »Sieh zu, dass du aus diesem verdammten Italien raus kommst. Nimm das Geld und mach dir ein schönes Leben.«