»Wie in der guten alten Zeit«, meinte er zufrieden. »Du hast mich nicht vergessen können, stimmt’s?«
»Nein«, flüsterte Lucia ihm ins Ohr. »Und weißt du, warum ich dich nicht habe vergessen können?«
»No, mi amore. Sag’s mir.«
»Weil ich wie mein Vater aus Sizilien stamme.«
Sie griff sich an den Hinterkopf und zog die lange Schmucknadel heraus, die ihr aufgetürmtes Haar zusammenhielt.
Benito Patas spürte einen Stich unter den Rippen und wollte wegen des plötzlichen Schmerzes aufschreien. Aber Lucias Mund war auf seine Lippen gepresst, und während Benitos Körper sich auf ihrem wand und aufbäumte, hatte sie einen Orgasmus.
Einige Minuten später war Lucia wieder angezogen, und die Nadel hielt wieder ihr Haar zusammen. Benito lag zugedeckt und mit geschlossenen Augen im Bett. Lucia klopfte an die Zellentür und lächelte den Schließer an, der ihr aufsperrte. »Er schläft«, flüsterte sie.
Der Schließer musterte die schöne junge Frau und grinste. »Wahrscheinlich haben Sie ihn geschafft.«
»Das hoffe ich«, sagte Lucia.
Die Kühnheit, mit der die beiden Morde verübt worden waren, faszinierte ganz Italien. Die schöne Tochter eines Mafioso hatte ihren Vater und ihre Brüder gerächt, und die leicht zu begeisternde italienische Öffentlichkeit applaudierte ihr und wünschte sich, sie möge entkommen. Die Polizei war verständlicherweise anderer Meinung. Lucia Carmine hatte einen angesehenen Richter ermordet und danach ausgerechnet hinter Gefängnismauern einen weiteren Mord verübt. Aus der Sicht der Carabinieri war die Tatsache, dass sie zum Narren gehalten worden waren, ebenso schlimm wie Lucias Straftaten. Die Medien amüsierten sich wieder einmal auf Kosten der Polizei.
»Ich verlange ihre Festnahme!« brüllte der Innenminister den Polizeikommandeur an. »Und zwar schnellstens.«
Die Großfahndung wurde verstärkt. Die Frau, der sie galt, hielt sich bei Giuseppe Salvatore versteckt - einem ehemaligen Mitarbeiter ihres Vaters, dem es gelungen war, sich dem Strudel des Verfahrens gegen Carmine und seine Leute zu entziehen.
Anfangs war Lucia nur von dem Gedanken besessen gewesen, ihren Vater und ihre Brüder zu rächen. Sie hatte eigentlich damit gerechnet, gefasst zu werden, und war zur Selbstaufopferung bereit gewesen. Aber nachdem es ihr gelungen war, das Gefängnis unbehelligt zu verlassen, begann sie, statt an Rache ans Überleben zu denken. Seitdem sie ihr Ziel erreicht hatte, erschien ihr das Leben plötzlich wieder kostbar. Du lässt dich nicht von ihnen schnappen, schwor Lucia sich. Niemals!
Salvatore und seine Frau hatten sich alle Mühe gegeben, Lucia unkenntlich zu machen. Sie hatten ihre Haarfarbe aufgehellt, ihre Zähne verfärbt und ihr eine Brille und schlecht sitzende Kleidung besorgt. Salvatore betrachtete das Ergebnis ihrer Bemühungen kritisch.
»Nicht schlecht«, meinte er. »Aber nicht gut genug. Wir müssen dich aus Italien rausschaffen. Du musst irgendwohin, wo nicht jede Zeitung mit deinem Foto auf der Titelseite erscheint. Wo du für ein paar Monate unterschlüpfen kannst.«
Und Lucia erinnerte sich: Solltest du jemals einen Freund brauchen, kannst du dich auf Dominique Durell verlassen. Wir sind wie Brüder zueinander. Er wohnt in Frankreich - in Beziers, in der Nähe der spanischen Grenze.
»Ich weiß, wo ich unterkommen kann«, sagte Lucia. »Aber dazu brauche ich einen Reisepass.«
»Den besorge ich dir.«
Vierundzwanzig Stunden später hielt Lucia einen auf den Namen Lucia Caproni ausgestellten Pass mit einem Foto in ihrer neuen Aufmachung in den Händen.
»Wohin willst du damit?«
»Mein Vater hat in Frankreich einen Freund, der mir weiterhelfen wird.«
»Soll ich dich bis zur Grenze begleiten?« schlug Salva-tore vor.
Sie wussten beide, wie gefährlich das sein konnte.
»Danke, Giuseppe«, sagte Lucia. »Du hast schon mehr als genug für mich getan. Ich muss mich allein durchschlagen.«
Am nächsten Morgen mietete Salvatore einen Fiat auf den Namen Lucia Caproni und übergab ihr die Schlüssel.
»Versprich mir, vorsichtig zu sein!« bat er.
»Keine Angst, ich bin ein Glückskind.«
Hatte ihr Vater ihr das nicht oft versichert?
An der italienisch-französischen Grenze bildeten Autofahrer, die nach Frankreich wollten, eine lange, nur langsam vorrückende Schlange. Je näher Lucia der Abfertigung kam, desto nervöser wurde sie. Bestimmt wurde an allen Grenzübergängen nach ihr gefahndet. Falls sie gefasst wurde, drohte ihr eine lebenslängliche Haftstrafe. Vorher bringst du dich um, nahm Lucia sich vor.
Sie erreichte die Grenzabfertigung.
»Ihren Pass, Signorina«, verlangte der Uniformierte hinter dem Schalter.
Lucia reichte ihm ihren schwarzen Reisepass durchs Autofenster. Der Polizeibeamte griff danach, und als er ihr einen prüfen den Blick zuwarf, sah sie, wie er die Stirn runzelte. Dann verglich er das Passfoto nochmals mit ihrem Gesicht - diesmal jedoch sorgfältiger. Lucia spürte, wie ihr Körper sich verkrampfte.
»Sie sind Lucia Carmine«, sagte er.
9
»Lucia Carmine.«
»Nein!« rief Lucia aus. Alles Blut war ihr aus dem Gesicht gewichen. Sie sah sich verzweifelt nach einer Fluchtmöglichkeit um, aber es gab keine. Zu ihrer Verblüffung lächelte der Uniformierte plötzlich. Er beugte sich weit nach vorn und flüsterte: »Ihr Vater ist gut zu meiner Familie gewesen, Signorina. Sie können weiterfahren. Alles Gute!«
Lucia war vor Erleichterung schwindlig. »Grazie.«
Sie gab Gas und fuhr die fünfundzwanzig Meter bis zur französischen Grenzkontrolle. Der Beamte, der dort Dienst tat, war stolz darauf, einen Blick für schöne Frauen zu haben, und diese Frau, die jetzt neben ihm hielt, war ganz entschieden keine Schönheit. Ungepflegtes Haar, dicke Brille, schlechte Zähne und schlampige Kleidung. Warum können Italienerinnen nicht so schön wie Französinnen sein? dachte er angewidert. Er verzichtete darauf, Lucias Pass zu kontrollieren, und winkte sie durch.
Sechs Stunden später war sie in Beziers.
Der Hörer wurde sofort nach dem ersten Klingeln abgenommen.
»Hallo?« sagte eine freundliche Männerstimme. »Dominique Dureil, bitte.« »Ich bin Dominique Dureil. Und wer sind Sie?« »Lucia Carmine. Mein Vater hat mir gesagt, dass.« »Lucia!« Durells herzlicher Tonfall hieß sie willkommen. »Ich habe gehofft, dass Sie sich bei mir melden würden.«
»Ich brauche Hilfe.«
»Auf mich können Sie sich verlassen.«
Lucia atmete erleichtert auf. Das war die erste gute Nachricht seit langem. Sie merkte plötzlich, wie ausgelaugt sie war.
»Ich brauche eine Unterkunft, in der ich vor der Polizei sicher bin.«
»Kein Problem, Lucia. Meine Frau und ich haben eine ideal geeignete Ferienwohnung, die Sie haben können, solange Sie wollen.«
Das klang fast zu gut, um wahr zu sein.
»Vielen Dank.«
»Wo sind Sie jetzt, Lucia?«
»Ich bin.«
In diesem Augenblick war am anderen Ende im Hintergrund ein Polizeifunkgerät zu hören. Es wurde augenblicklich ausgeschaltet.
»Lucia.«
In ihrem Kopf schrillten sämtliche Alarmglocken, »Wo sind Sie, Lucia? Ich komme vorbei und hole Sie ab.«
Weshalb sollte er zu Hause den Polizeifunk abhören? Und er hat gleich beim ersten Klingeln abgehoben - fast als hätte er auf deinen Anruf gewartet.
»Lucia, hören Sie mich noch?«
Plötzlich wusste sie ganz sicher, dass der Mann am anderen Ende ein Polizeibeamter war. Also wurde auch in Frankreich nach ihr gefahndet. Und ihr Anruf wurde zu seinem Ausgangspunkt zurückverfolgt.
»Lucia.«
Sie hängte den Hörer ein und verließ rasch die Telefonzelle.