Du musst aus Frankreich verschwinden, dachte sie.
Lucia lief zu ihrem Wagen zurück und holte eine Straßenkarte aus dem Handschuhfach. Bis zur spanischen Grenze war es nicht weit. Sie warf die Karte auf den Beifahrersitz und fuhr nach Süden in Richtung San Sebastian.
An der spanischen Grenze begann alles schief zugehen.
»Ihren Pass, bitte.«
Lucia gab dem spanischen Grenzpolizisten ihren Reisepass. Der Uniformierte warf einen flüchtigen Blick hinein, wollte ihr den Pass schon zurückgeben und zögerte dann doch. Nach einem weiteren prüfenden Blick veränderte sich sein bis dahin eher gelangweilter Gesichtsausdruck.
»Augenblick, bitte. Den muss ich drinnen abstempeln lassen.«
Er hat dich erkannt! dachte Lucia verzweifelt. Sie beobachtete, wie er den Dienstraum der Abfertigungsstelle betrat und ihren Pass einem Kollegen zeigte. Die beiden sprachen aufgeregt miteinander. Sie musste weg von hier. Sie öffnete die Fahrertür und stieg aus. Deutsche Touristen, die kontrolliert worden waren, bestiegen lärmend ihren Ausflugsbus, der neben Lucias Fiat stand. Der Bus war auf dem Weg nach Madrid.
»Bitte Beeilung, Herrschaften!« rief ihr Reiseleiter.
Lucia warf einen Blick in den Dienstraum. Der Uniformierte, der ihr den Pass abgenommen hatte, brüllte ins Telefon.
»Bitte rasch einsteigen!«
Lucia mischte sich unter die lachenden, schwatzenden Touristen und drehte den Kopf zur Seite, damit der Reiseleiter ihr Gesicht nicht sah, als sie in den Bus stieg. Sie nahm ganz hinten Platz und hielt den Kopf gesenkt. Fahr los! betete sie. Sofort!
Durchs Busfenster konnte Lucia beobachten, dass ein weiterer Uniformierter sich zu den beiden anderen gesellt hatte und nun ebenfalls ihren Reisepass begutachtete.
Wie als Antwort auf ihr Stoßgebet ließ der Busfahrer den Motor an und schloss die mit Druckluft betätigten Türen. Im nächsten Augenblick rollte der Bus an und verließ San Sebastian in Richtung Madrid.
Was würde passieren, wenn die Grenzpolizei entdeckte, dass sie nicht mehr in ihrem Wagen war? Als erstes würden die Uniformierten glauben, sie sei auf die Damentoilette gegangen. Sie würden warten und schließlich eine Kollegin hineinschicken, um sie herausholen zu lassen. Danach würden sie die nähere Umgebung absuchen, weil denkbar war, dass sie sich dort versteckt hielt. In der Zwischenzeit würden Dutzende von Bussen und Personenwagen die Grenze passiert haben. Die Polizei würde nicht wissen, wohin sie verschwunden und wohin sie unterwegs war.
Die deutschen Bustouristen waren offenbar bester Laune. Weshalb auch nicht? dachte Lucia verbittert. Schließlich ist ihnen die Polizei nicht auf den Fersen. Hat es sich gelohnt, dafür den Rest deines Lebens zu riskieren? Die Szenen mit Richter Buscetta und Benito Patas standen erneut vor ihrem inneren Auge.
Ich habe das Gefühl, dass wir sehr gute Freunde werden könnten, Lucia... Tod den Verbrechern!
Und Benito Patas: Wie in der guten alten Zeit. Du hast mich nicht vergessen können, stimmt’s?
Und sie hatte ihre Angehörigen an den Verrätern Patas und Buscetta gerächt. Hat sich das gelohnt? Die beiden waren tot, aber ihr Vater und ihre Brüder würden bis ans Ende ihrer Tage leiden. O ja! dachte Lucia. Es hat sich gelohnt!
Irgendjemand im Bus begann zu singen, und die anderen fielen ein: »In München steht ein Hofbräuhaus, oans, zwoa, g’suffa.«
In dieser Gruppe bist du eine Zeitlang sicher, dachte Lucia. Wie ’s weitergeht, brauchst du dir erst in Madrid zu überlegen.
Aber sie sollte niemals bis nach Madrid kommen.
In der von Mauern umgebenen alten Stadt Avila hielt der Bus planmäßig, damit die Reisenden eine Erfrischung zu sich nehmen und eine Pinkelpause machen konnten, wie der Reiseleiter es gewollt scherzhaft nannte.
»Alles aussteigen!« rief er von der vorderen Tür her.
Lucia blieb auf ihrem Platz und sah zu, wie die anderen aufstanden und sich zur vorderen Tür drängten. Hier drinnen bist du sicherer. Aber der Reiseleiter wurde auf sie aufmerksam.
»Raus mit Ihnen, Fräulein!« forderte er sie auf. »Wir machen nur eine Viertelstunde Pause.«
Lucia zögerte noch; dann stand sie widerstrebend auf und kam langsam nach vorn.
»Augenblick!« sagte der Reiseleiter, als sie an ihm vorbeigehen wollte. »Sie gehören nicht zu dieser Gruppe.«
Lucia lächelte freundlich. »Nein«, bestätigte sie. »Wissen Sie, ich habe in San Sebastian eine Autopanne gehabt und muss dringend nach Madrid, deshalb.«
»Nein!« wehrte er scharf ab. »Ausgeschlossen! Wir sind eine private Reisegruppe.«
»Ja, ich weiß«, sagte Lucia, »aber ich muss dringend.«
»Die Mitfahrerlaubnis müssten Sie von der Firmenleitung in München einholen.«
»Das kann ich nicht. Ich hab’s schrecklich eilig und.«
»Nein, nein, kommt nicht in Frage! Ich will keine Scherereien. Verschwinden Sie, sonst hole ich die Polizei!«
»Aber.«
Er ließ sich durch nichts umstimmen. Zwanzig Minuten später beobachtete Lucia, wie der Bus anfuhr und in Richtung Madrid davon röhrte. Die Polizei in einem halben Dutzend europäischer Staaten fahndete wegen zweier Morde nach ihr, und sie saß ohne Pass und mit nur sehr wenig Geld in der Tasche in Avila fest.
Sie drehte sich um und betrachtete ihre Umgebung näher. Der Bus hatte gegenüber einem runden Gebäude gehalten, das durch ein Schild als Estacion de Autobusses ausgewiesen wurde.
Von hier aus kannst du mit einem anderen Bus weiterfahren, dachte Lucia.
Sie betrat den Busbahnhof. In der mit Marmor verkleideten Schalterhalle gab es ein Dutzend Fahrkartenschalter, über denen die Zielorte angegeben waren: Padier-nos... Munogalindo... Munana... Amavida... Madrid... Treppen und eine Rolltreppe führten ins Untergeschoß, aus dem die Busse abfuhren. An einem Imbissstand wurden Krapfen, Süßigkeiten und in Wachspapier eingewickelte Sandwiches verkauft. Bei diesem Anblick merkte Lucia plötzlich, wie ausgehungert sie war.
Kauf dir lieber nichts, dachte sie, bevor du weißt, was die Busfahrt kostet.
Als sie auf den Schalter zuging, über dem Madrid stand, kamen zwei Polizisten in die Schalterhalle gehastet. Einer von ihnen hielt ein Fahndungsfoto in der Hand. Die beiden klapperten die Schalter ab und zeigten den Fahrkartenverkäuferinnen das Foto.
Das ist dein Foto! Dieser verdammte Reiseleiter muss zur Polizei gegangen sein.
Eine vielköpfige Familie kam mit der Rolltreppe aus dem Untergeschoß herauf und bewegte sich in Richtung
Ausgang. Lucia schloss sich ihr an, mischte sich unter sie und gelangte so unbehelligt ins Freie.
Sie ging übers Kopfsteinpflaster der alten Stadt Avila davon und bemühte sich, nicht zu laufen, um keine Aufmerksamkeit zu erregen. Sie bog auf die Calle de la Mad-re Soledad mit ihren Granitfassaden und schwarzen schmiedeeisernen Baikonen ab und setzte sich auf der Plaza de la Santa auf eine Parkbank, um über ihren nächsten Schritt nachzudenken. Hundert Meter von ihr entfernt saßen mehrere Frauen und einige Paare im Park und genossen den Nachmittagssonnenschein.
Dann fuhr ein Streifenwagen vor. Er hielt am anderen Ende des Platzes, und zwei Uniformierte stiegen aus. Sie traten auf eine der allein auf einer Bank sitzenden Frauen zu und stellten ihr offenbar Fragen. Lucias Herz begann rascher zu schlagen.
Sie zwang sich dazu, langsam aufzustehen, kehrte den Polizeibeamten mit jagendem Puls den Rücken zu und ging davon. Die nächste Straße hieß unglaublicherweise »Die Straße von Leben und Tod«. Ob das ein Omen ist?