»Felix Carpio.« Er war ein muskulöser, bärtiger Mann mit einer kaum verheilten Narbe auf der linken Backe, die selbst sein Vollbart nicht verdecken konnte. »Ich habe keine Angst vorm Sterben, Pater.«
»Das ist gut, mein Sohn, denn sterben müssen wir eines Tages alle.«
Während der Geistliche Carpio die Beichte abnahm, begannen anfangs noch ferne Geräusche, die rasch lauter wurden, durchs Gebäude zu hallen. Das Donnern der wild gewordenen Stiere ging fast in den Schreckensschreien der fliehenden Menge unter. Der Aufseher lauschte verblüfft nach draußen. Die Geräusche kamen schnell näher.
»Beeilen Sie sich lieber, Pater. Draußen geht irgendwas Merkwürdiges vor.«
»Ich bin fertig.«
Der Uniformierte sperrte hastig die Zellentür auf. Nachdem der Geistliche in den Korridor getreten war, schloss der Aufseher hinter ihm ab. Vom Gefängniseingang her ertönte ein lautes Krachen. Der Polizeibeamte machte kehrt, um aus einem schmalen, vergitterten Fenster zu sehen.
»Was ist das für ein Krach, verdammt noch mal?« »Anscheinend will uns jemand besuchen«, sagte der Geistliche. »Darf ich sie mir kurz ausleihen?«
»Was ausleihen?«
»Ihre Maschinenpistole, por favor.«
Während der Geistliche sprach, trat er auf den Uniformierten zu. Er griff wortlos nach seinem großen Brustkreuz, das sich teilen ließ, und zog ein langes, gefährlich aussehendes Stilett heraus. Dann stieß er es dem Aufseher mit einer blitzschnellen Bewegung in die Brust.
»Siehst du, mein Sohn«, sagte er, während er dem Sterbenden die MP entriss, »Gott und ich haben beschlossen, dass du diese Waffe nicht mehr brauchst.«
Der Aufseher sackte auf dem Betonfußboden zusammen. »In nomine patris«, murmelte Jaime Miro und bekreuzigte sich andächtig. Er nahm dem Toten die Schlüssel ab und sperrte hastig die beiden Zellen auf. Der von der Straße heraufdringende Lärm wurde noch lauter.
»Los, wir müssen weiter!« drängte Jaime.
Ricardo Mellado griff nach der Maschinenpistole. »Mann, du gibst einen verdammt guten Priester ab. Fast hättest du mich überzeugt.« Er versuchte, mit seinen geschwollenen Lippen zu lächeln.
»Felix und dich haben sie wirklich in die Mangel genommen, was? Aber das werden sie noch büßen!«
Jaime Miro legte den beiden seine Arme um die Schultern und führte sie den Korridor entlang.
»Was ist mit Zamora passiert?«
»Die Aufseher haben ihn tot geprügelt. Wir haben seine Schreie gehört. Sie haben ihn in die Krankenabteilung geschleppt und behauptet, er sei an Herzversagen gestorben.«
Vor ihnen war der Gang durch eine massive Stahl tür abgeriegelt.
»Ihr wartet hier«, wies Jaime Miro seine Männer an.
Er trat an die Tür. »Ich bin hier fertig«, sagte er zu dem Polizeibeamten auf der anderen Seite.
Der Aufseher sperrte die Tür auf. »Beeilen Sie sich lieber, Pater. Draußen geht irgendwas.« Er brachte diesen Satz nicht mehr zu Ende. Als Jaime ihm das Stilett in die Brust stieß, quoll ein Blutstrom aus seinem Mund.
Jaime machte seinen Leuten ein Zeichen. »Los, weiter!«
Felix Carpio schnappte sich die Maschinenpistole des Aufsehers und hastete hinter den beiden anderen die Treppe hinunter. Draußen herrschte unglaubliche Verwirrung. Polizeibeamte liefen durcheinander, versuchten zu begreifen, was passiert war, und bemühten sich, die kreischenden Menschen abzudrängen, die auf der Flucht vor den wütenden Stieren waren.
Ein Tier hatte das Holztor gerammt und aufgesprengt; ein anderes war eben dabei, einen zu Boden gegangenen Uniformierten aufzuspießen. Der rote Lastwagen stand mit laufendem Motor auf dem Hof. Im allgemeinen Durcheinander achtete fast niemand auf die drei Männer. Und die wenigen, denen sie auffielen, waren zu sehr damit beschäftigt, sich vor den Stieren in Sicherheit zu bringen, als dass sie etwas tun konnten, um die drei aufzuhalten.
Jaime und seine Männer kletterten wortlos auf die Ladefläche des Lastwagens, der sofort davon röhrte und die Passanten auf den belebten Straßen erschrocken auseinanderstieben ließ.
Die Guardia Civil, die paramilitärische Landpolizei in grünen Uniformen mit schwarzen Lacklederkappen, bemühte sich vergeblich, den hysterischen Mob unter Kontrolle zu bringen. Auch die in den Provinzhauptstädten stationierte Policia Armada war angesichts der allgemeinen Verwirrung machtlos. Auf der Flucht vor den wütenden Stieren stob die Menge nach allen Richtungen auseinander. Die eigentliche Gefahr ging weniger von den Stieren, sondern von den Menschen aus, die einander umrannten, um nur möglichst schnell wegzukommen. Vor allem Kinder und Alte gerieten unter die Füße des über sie hinwegtrampelnden Mobs.
Jaime beobachtete dieses erschreckende Schauspiel verzweifelt. »So war’s nicht geplant!« rief er aus. »Der Lastwagen hätte vor der nächsten Barriere warten sollen.« Er starrte die angerichtete Verwüstung hilflos an, ohne etwas dagegen unternehmen zu können. Deshalb schloss er zuletzt die Augen, um sie nicht länger sehen zu müssen.
Der Lastwagen erreichte die Vororte Pamplonas, fuhr nach Süden weiter und ließ den Lärm und das allgemeine Durcheinander hinter sich.
»Wohin fahren wir, Jaime?« wollte Ricardo Mellado wissen.
»Zu einem sicheren Haus außerhalb von Lorca. Dort bleiben wir, bis es dunkel wird. Dann geht’s weiter.«
Felix Carpio stöhnte vor Schmerzen.
Jaime Miro warf ihm einen mitleidigen Blick zu. »Wir sind bald da, mein Freund«, versicherte er ihm.
Vor seinem inneren Auge stand weiter die schreckliche Szene in Pamplona.
Nach halbstündiger Fahrt erreichten sie das kleine Dorf Lorca und fuhren daran vorbei zu einem einsam gelegenen Haus in den Bergen oberhalb des Dorfs. Jaime Miro half den beiden Männern von der Ladefläche des roten Lastwagens.
»Ihr werdet um Mitternacht abgeholt«, sagte der Fahrer.
»Sorg dafür, dass ein Arzt mitkommt«, wies Jaime ihn an. »Und sieh zu, dass du den Lastwagen los wirst.«
Die drei Männer betraten das Haus, ein schlichtes und trotzdem behagliches Bauernhaus mit Balkendecken und einem offenen Kamin im Wohnzimmer. Auf dem Tisch lag ein kurzer Brief. Jaime Miro las ihn und lächelte über die traditionelle Begrüßungsphrase: Mi casa es su casa. Auf der Anrichte standen Weinflaschen. Jaime entkorkte eine und schenkte ein.
»Ich finde keine Worte, um dir zu danken, mein Freund«, sagte Ricardo Mellado. »Auf dein Wohl!«
Jaime hob sein Glas. »Auf die Freiheit!«
In diesem Augenblick begann ein in einem Käfig gehaltener Singvogel laut zu trillern. Jaime Miro trat ans Vogelbauer und beobachtete den wieder verstummten Gefangenen nachdenklich. Dann öffnete er die Käfigtür, holte den wild flatternden Vogel behutsam heraus und trug ihn zum offenen Fenster.
»Flieg, Pajarito«, sagte er leise, »alle Lebewesen sollten frei sein.«
2
Ministerpräsident Leopoldo Martinez kochte vor Wut. Er war ein kleiner, bebrillter Mann, der am ganzen Leib zitterte, während er sprach. »Diesem Jaime Miro muss das Handwerk gelegt werden!« rief er aus. Seine Stimme war hoch und schrill. »Haben Sie verstanden?« Er starrte das in seinem Amtszimmer versammelte halbe Dutzend Männer aufgebracht an. »Wir fahnden nach einem einzigen Terroristen, und die gesamte Armee und Polizei sind außerstande, ihn aufzuspüren.«
Die Besprechung fand im Palacio de la Moncloa, dem Wohn- und Amtssitz des Ministerpräsidenten, statt, der fünf Kilometer vom Zentrum Madrids entfernt an der Carretera de Galicia lag, ohne dass ein Schild auf ihn hingewiesen hätte. Der grüne Bau wies schmiedeeiserne Balkone, grüne Fensterläden und einen Wachtturm an jeder seiner vier Ecken auf.
Der Tag war heiß und trocken, und so weit das Auge reichte, stiegen vor den Fenstern säulenförmige Hitzewellen wie Bataillone schemenhafter Soldaten auf.