Die Frauen, die sich als Bräute Christi sahen, lebten miteinander, arbeiteten miteinander, aßen miteinander und beteten miteinander, aber sie berührten einander nie und sprachen niemals. Das Schweigegebot durfte nur in zwei Fällen durchbrochen werden: während des Gottesdienstes und wenn die Äbtissin, Ehrwürdige Mutter Beti-na, in ihrem Arbeitszimmer unter vier Augen mit ihnen sprach. Und selbst dann wurde möglichst die altüberlieferte Zeichensprache der Zisterzienserinnen gebraucht.
Die Ehrwürdige Mutter war eine fromme Siebzigerin, eine zierliche, fröhliche und energische Gestalt mit hellwachem Blick, die den Frieden und die Freuden des Klosteralltags und eines Gott geweihten Lebens genoss. Da ihr das Wohl der ihrer Obhut anvertrauten Nonnen sehr am Herzen lag, empfand sie etwa notwendige Disziplinarmaßnahmen stets schmerzlicher als die Betroffene selbst.
Die Ordensfrauen schritten mit gesenktem Blick, mit unter den Ärmeln in Brusthöhe gefalteten Händen durch den Kreuzgang und die Gänge des Klosters, begegneten ihren Schwestern und passierten einander erneut wortlos, ohne ein Zeichen des Erkennens. Die einzige Stimme der Kommunität waren die Glocken - jene Glocken, die Victor Hugo als »die Oper der Kirchtürme« bezeichnet hat.
Die Schwestern kamen aus vielen Ländern und stammten aus unterschiedlichsten Verhältnissen. Ihre Väter waren Aristokraten, Gelehrte, Bauern, Handwerker, Offiziere. Bei ihrem Eintritt ins Kloster waren sie arm oder reich, unwissend oder gebildet, betrübt oder exaltiert gewesen, aber jetzt waren sie in ihrem Wunsch, Bräute Christi zu sein, alle vor den Augen Gottes gleich.
Die Lebensbedingungen im Kloster waren spartanisch. Im Winter war die Kälte beißend scharf, und durch die bleigefassten Scheiben fiel kaltes, blasses Licht. Die Schwestern schliefen in ihren lediglich mit einem Holzstuhl möblierten winzigen Einzelzellen vollständig bekleidet unter groben Wolldecken auf Strohsäcken. Es gab kein Waschbecken, sondern in einer Ecke der Zelle stand ein kleiner Tonkrug in einer Schale auf dem Fußboden. Außer der Ehrwürdigen Mutter Betina durfte keine Nonne die Zelle einer Mitschwester betreten.
Wörter wie Freizeit und Erholung waren im Kloster Avila unbekannt; dort gab es nur Gebete und Arbeit. Die Schwestern waren in verschiedenen Arbeitsbereichen als Strickerinnen, Buchbinderinnen, Weberinnen und Bäcke-rinnen tätig. Tagtäglich wurde acht Stunden lang gebetet: Nachtoffizium, Laudes, Prim, Terz, Sext, Non, Vesper und Komplet. Darüber hinaus gab es weitere Beweise der Frömmigkeit: Gebete, Chorgesänge und Litaneien.
Das Nachtoffizium fand statt, während die eine Hälfte der Welt schlief und die andere sich der Sünde hingab.
Die Landes, der Gottesdienst bei Tagesanbruch, folgten auf das Nachtoffizium und priesen den mächtigen Schöpfer des Alls.
Die Prim, das Morgengebet des Klosters, erflehte Gottes Segen für die Arbeiten des Tages.
Die Terz, das um 9 Uhr gefeierte Offizium der dritten Stunde, bat nach der Regel des St. Augustinus um die Gaben des Heiligen Geistes.
Die Sext, das Gebet der Kreuzigungsstunde um 11.30 Uhr, flehte um Kühlung in schädlicher Hitze, Gesundheit des Leibes, Frieden der Seele und Kraft für den schuldigen Dienst.
Die Non war ein stilles Gebet um 15 Uhr - der Stunde, in der Christus sein Leiden vollendete.
Die Vesper war der feierliche Abendgottesdienst mit den Gesängen des Sonnenuntergangs und dem Magnifikat.
Die Komplet, das kirchliche Abendgebet, vereinte die Kommunität in der Bitte um eine ruhige Nacht und ein vollkommenes Ende und beschloss den Tag in einer Atmosphäre liebender Unterwerfung: Manus tuas, domine, commendo spiritum meum. Rede-misti nos, domine, deus veritatis.
In einigen anderen Orden war die Geißelung abgeschafft worden, aber in den klausurierten Zisterzienserklöstern existierte sie weiter. Wenigstens einmal in der Woche - und manchmal sogar täglich - geißelten die Schwestern sich mit .der Disziplin, einer dreißig Zentimeter langen Peitsche aus sechs gewachsten und verknoteten Stricken, deren sehr schmerzhafte Schläge Rücken, Gesäß und Beine trafen. Bernhard von Clairvaux, der asketische Zisterzienserabt, hatte gemahnt: »Der Leib Christi ist voll Blut und Wunden. unsere Leiber müssen dem geschundenen Leib unseres Herrn gleichen.«
Obwohl ihr Leben karger als jede Gefängnishaft war, lebten die Nonnen in einer in der Welt außerhalb der Klostermauern nie gekannten Ekstase. Sie hatten auf Besitz, körperliche Liebe und Entscheidungsfreiheit verzichtet, aber durch diesen Verzicht zugleich Geldgier und Wetteifer, Hass und Neid und alle Zwänge und Versuchungen der Außenwelt hinter sich gelassen. In der Kommunität herrschten allgemeiner Frieden und ein unauslöschliches Gefühl der Freude darüber, mit Gott eins zu sein. Falls das Kloster ein Gefängnis war, glich es einem Gefängnis im Garten Eden und vermittelte allen, die aus freien Stücken beschlossen hatten, dort zu sein und zu bleiben, die beseligende Hoffnung auf ein glückliches ewiges Leben.
Schwester Lucia wurde durch das Läuten der Klosterglocke geweckt. Sie schlug die Augen auf und war sekundenlang verwirrt und desorientiert. Die kleine Zelle, in der sie schlief, war grässlich finster. Der Glockenklang sagte ihr, dass es drei Uhr morgens war: er rief sie zum Nachtoffizium, während die Welt noch im Dunkel lag.
Scheiße! dachte Schwester Lucia. Dieser Tagesablauf bringt mich noch um!
Sie ließ sich kurz auf ihre winzige, unbequeme Pritsche zurücksinken und wünschte sich sehnlich eine Zigarette. Aber dann stand sie doch widerstrebend auf. Das schwere Ordensgewand, in dem sie schlief, fühlte sich auf ihrer empfindlichen Haut wie Schleifpapier an. Sie dachte an die vielen Modellkleider, die in ihrem Apartment in Rom und ihrem Chalet in Gstaad hingen. All die Valentinos und Armanis und Giannis.
Draußen vor ihrer Zelle konnte Schwester Lucia die leisen, schlurfenden Bewegungen hören, mit denen ihre Mitschwestern sich auf dem Gang versammelten. Sie machte hastig und oberflächlich ihr Bett und trat in den langen Korridor hinaus, in dem die Nonnen sich mit gesenktem Blick aufstellten. Danach machten sie sich langsam auf den Weg zur Kapelle.
Sie sehen wie ein Schwärm Pinguine aus, dachte Schwester Lucia. Sie begriff nicht, was diese Frauen dazu bewogen hatte, ihr Leben wegzuwerfen und auf Sex, schöne Kleider und gutes Essen zu verzichten. Wozu soll man weiterleben, wenn man das alles nicht hat? Und diese gottverdammten Ordensregeln!
Als Schwester Lucia ins Kloster eingetreten war, hatte die Ehrwürdige Mutter ihr erklärt: »Sie müssen mit gesenktem Kopf gehen. Halten Sie Ihre Hände unter dem Habit gefaltet. Gehen Sie langsam, mit kleinen Schritten. Sie dürfen niemals Blickkontakt mit anderen Schwestern aufnehmen, sie nicht einmal ansehen. Sie dürfen nicht sprechen. Ihre Ohren sollen nur das Wort Gottes hören.«
»Ja, Ehrwürdige Mutter.«
Im folgenden Monat war Lucia unterwiesen worden.
»Wer hier aufgenommen zu werden bittet, kommt nicht, um sich anderen anzuschließen, sondern um mit Gott allein zu sein. Geistige Einsamkeit ist die Voraussetzung für eine Vereinigung mit Gott. Sie wird durch die Regeln des Schweigegebots geschützt.«
»Ja, Ehrwürdige Mutter.«
»Das Schweigen der Augen müssen Sie stets einhalten. Blicke in die Augen anderer würden Sie mit unnützen Bildern ablenken.«
»Ja, Ehrwürdige Mutter.«
»Die erste Lektion, die Sie hier lernen werden, besteht aus einer Korrektur der Vergangenheit, aus dem Ablegen alter Gewohnheiten und weltlicher Neigungen, aus dem Vergessen aller Erinnerungen an die Vergangenheit. Sie werden reinigende Buße und Sühne tun, um sich von eigenem Willen und Eigenliebe zu befreien. Für uns genügt es nicht, unsere in der Vergangenheit verübten Sünden zu bereuen. Sobald wir die unendliche Schönheit und Heiligkeit Gottes erkennen, streben wir nicht nur danach, unsere eigenen Sünden, sondern alle jemals begangenen Sünden wieder gut zu machen.«