Sie konnte es kaum noch erwarten, Rubio zu erzählen, wie gut alles geklappt hatte. Er wartete in Biarritz auf ihren Anruf. Sie würden miteinander nach Brasilien fliegen.
»Dort können wir bis ans Ende unserer Tage in Frieden leben«, hatte sie ihm versichert.
Jetzt war es endlich soweit. Nach all den Abenteuern und Gefahren. der Verhaftung ihres Vaters und ihrer Brüder. ihrer Rache an Richter Buscetta und Benito Patas. der polizeilichen Fahndung und ihrer Flucht ins Kloster. dem Überfall durch Acocas Männer und der Begegnung mit dem hochstaplerischen Pater. Jaime Miro und Schwester Teresa und dem goldenen Kruzifix. und Rubio Arzano. Wie oft hatte er sein Leben für sie riskiert? Er hatte sie im Wald vor den Soldaten gerettet. aus den reißenden Strudeln am Wasserfall. vor den Männern in der Bar in Aranda de Duero. Allein der Gedanke an Rubio erwärmte Lucias Herz.
Sie kehrte in ihr Hotelzimmer zurück, griff nach dem Telefonhörer und wartete darauf, dass die Vermittlung sich meldete.
Auch in Rio wird’s irgendwas für ihn zu tun geben. Aber was? Was kann er schon? Wahrscheinlich wird er eine Hazienda kaufen wollen. Und was würdest du dort tun? Auf dem Land versauern?
»Welche Nummer wünschen Sie bitte?« fragte die Telefonistin.
Lucia saß da und starrte die schneebedeckten Alpengipfel an. Du hast ganz andere Vorstellungen vom Leben als Rubio. Ihr lebt in verschiedenen Welten. Du bist Angela Carmines Tochter.
»Welche Nummer, bitte?«
Er ist ein Bauer. Das ist die Arbeit, die er liebt. Wie kannst du sie ihm wegnehmen wollen? Das darfst du ihm nicht antun.
Die Telefonistin wurde ungeduldig. »Welche Nummer möchten Sie, bitte?«
»Danke, keine«, sagte Lucia langsam. Sie legte den Hörer auf.
Früh am nächsten Morgen bestieg sie eine Swissair-Maschine nach Rio.
Sie war allein.
39
Das erste Gespräch hatte in dem eleganten Salon von Ellen Scotts Patriziervilla stattgefunden. Sie war unruhig auf und ab gegangen, während sie darauf gewartet hatte, dass Alan Tucker mit dem Mädchen eintraf. Nein, nicht mit einem Mädchen. Mit einer erwachsenen Frau. Einer Klosterschwester. Wie würde sie sein? Was hatte das Leben ihr angetan? Was habe ich ihr angetan?
Der Butler war hereingekommen. »Ihre Gäste sind eingetroffen, Madam.«
Sie hatte tief Luft geholt. »Ich lasse bitten.«
Sekunden später hatte Megan vor Alan Tucker den Salon betreten.
Sie ist schön, dachte Ellen Scott.
Tucker lächelte. »Mrs. Scott, das hier ist Megan.«
Ellen Scott erwiderte seinen Blick. »Danke, ich brauche Sie nicht mehr«, sagte sie ruhig. Ihre Worte klangen endgültig.
Sein Lächeln verschwand schlagartig.
»Leben Sie wohl, Tucker.«
Er zögerte noch einen Augenblick, nickte dann und ging. Irgendwie wurde er das Gefühl nicht los, etwas übersehen zu haben. Etwas sehr Wichtiges. Zu spät, dachte er resigniert. Viel zu spät.
Ellen Scott betrachtete Megan. »Nehmen Sie bitte Platz.«
Megan ließ sich in dem angebotenen Sessel nieder und musterte ihrerseits die ältere Frau.
Sie sieht ihrer Mutter sehr ähnlich, dachte Ellen Scott. Sie ist zu einer Schönheit herangewachsen. Sie erinnerte sich an die Schreckensnacht des Flugzeugabsturzes, an das Gewitter und die brennende Maschine.
Du hast gesagt, sie sei tot... Aber wir können etwas unternehmen... Der Pilot hat gesagt, wir seien in der Nähe von Avila. Dort sind immer viele Touristen. Niemand hätte Anlass, ein ausgesetztes Kleinkind mit dem Flugzeugabsturz in Verbindung zu bringen... Wir setzen sie auf irgendeinem Bauernhof außerhalb der Stadt aus. Dort wird sie adoptiert und wächst glücklich und zufrieden auf. Du musst dich entscheiden, Milo. Du kannst mich haben - oder für den Rest deines Lebens für deine Nichte schuften.
Und nun hatte die Vergangenheit sie eingeholt. Wo sollte sie beginnen?
»Ich bin Ellen Scott, die Präsidentin der Firma Scott Industries. Ist Ihnen dieser Name ein Begriff?«
»Nein.«
Natürlich hat sie im Kloster nie davon gehört! schalt Ellen sich.
Diese Sache würde schwieriger werden, als sie vorausgesehen hatte. Sie hatte sich eine Geschichte über einen alten Freund der Familie zurechtgelegt, dem sie auf dem Totenbett versprochen hatte, sich um seine Tochter zu kümmern. Aber ein Blick hatte genügt, um Ellen Scott zu zeigen, dass Megan sich nicht hinters Licht führen lassen würde.
Ihr blieb keine andere Wahl, als darauf zu vertrauen, dass Patricia - Megan - sie nicht alle ins Unglück stürzen würde. Ellen Scotts Augen füllten sich mit Tränen, als sie daran dachte, was sie der ihr Gegenübersitzenden alles angetan hatte. Aber für Tränen ist’s zu spät. Jetzt ist tätige Reue angesagt. Jetzt muss die Wahrheit auf den Tisch!
Ellen Scott beugte sich zu Megan hinüber und ergriff ihre Hand. »Ich muss Ihnen eine Geschichte erzählen, meine Liebe«, sagte sie ruhig.
Das war vor drei Jahren gewesen. Bis Ellen Scotts Zustand sich nach einem Jahr dramatisch verschlechtert hatte, hatte sie Megan unter ihre Fittiche genommen. Megan war in die Geschäftsführung der Firma Scott In-dustries eingetreten, und ihre Begabung und Intelligenz hatten ihre Tante begeistert.
»Du wirst schwer arbeiten müssen«, hatte Ellen Scott gesagt. »Du wirst lernen, wie ich gelernt habe. Anfangs wird es schwierig sein, aber zuletzt wird die Firma dein Lebensinhalt werden.«
Und das war sie geworden.
Megan bewältigte ein Arbeitspensum, das keiner ihrer Angestellten auch nur annähernd erreichte.
»Du bist schon um vier Uhr morgens im Büro und arbeitest den ganzen Tag lang. Wie schaffst du das nur?«
Megan lächelte und dachte: Hätte ich im Kloster bis vier Uhr geschlafen, hätte Schwester Betina mich ausgescholten.
Ellen Scott lebte nicht mehr, aber Megan hatte weitergelernt und zugesehen, wie der Konzern - ihre Firma -wuchs. Ellen Scott hatte sie adoptiert. »Damit wir nicht erklären müssen, weshalb du eine Scott bist«, hatte sie mit einem Anflug von Stolz in der Stimme gesagt.
Eigentlich eine Ironie des Schicksals, hatte Megan sich überlegt. In all den Jahren im Waisenhaus hat mich niemand adoptieren wollen. Und jetzt werde ich von meiner eigenen Familie adoptiert.
Gott hat einen wunderbaren Sinn für Humor.
40
Der neue Mann saß am Steuer des Fluchtfahrzeugs. Das machte Jaime Miro nervös.
»Ich weiß nicht, ob wir ihm trauen können«, erklärte er Felix Carpio. »Was ist, wenn er mit dem Wagen abhaut und uns im Stich lässt?«
»Unsinn! Er ist der Schwager meiner Cousine. Auf ihn ist Verlass. Er hat immer wieder darum gebeten, einmal mitmachen zu dürfen.«
»Ich habe ein ungutes Gefühl bei dieser Sache«, stellte Jaime fest.
Sie waren am frühen Nachmittag nach Sevilla gekommen und hatten sich ein halbes Dutzend Banken angesehen, bevor sie sich für eine entschieden hatten. Die Bankfiliale lag in einer Seitenstraße: klein, nicht allzu belebt und in der Nähe einer Fabrik, die dort größere Einzahlungen leisten würde. Alles schien perfekt zu sein. Bis auf den Mann am Steuer des Fluchtfahrzeugs.
»Macht nur er dir Sorgen?« erkundigte Felix sich.
»Nein.«
»Was sonst?«
Diese Frage war schwer zu beantworten. »Man könnte es böse Vorahnungen nennen.« Jaime bemühte sich, das leichthin zu sagen, als mache er sich über sich selbst lustig.