Schwester Graciela kniete neben ihrer Pritsche nieder. Jesus, ich danke dir, dass du mich von meiner Vergangenheit erlöst hast. Ich danke dir für die Gnade, in deinem Licht leben zu dürfen. Lass mich nur an dir Freude finden. Hilf mir, mein Geliebter, deinem Ruf zu folgen. Hilf mir, den Kummer deines geheiligten Herzens zu lindern. Amen.
Schwester Graciela erhob sich, machte sorgfältig ihr Bett und reihte sich dann in die Prozession der zum Nachtoffizium in die Kapelle eilenden Schwestern ein. Sie roch den vertrauten Duft brennender Kerzen und spürte die glatt geschliffenen Steinplatten unter ihren Sandalen.
In der ersten Zeit nach ihrem Eintritt ins Kloster hatte Schwester Graciela nicht verstanden, was die Ehrwürdige Mutter meinte, wenn sie sagte, eine Nonne sei eine Frau, die alles aufgegeben habe, um alles zu besitzen. Damals war Schwester Graciela vierzehn Jahre alt gewesen. Jetzt - siebzehn Jahre später - war ihr der Sinn dieser Aussage klar. Durch Meditation besaß sie alles, denn Meditation war das Zwiegespräch des Geistes mit der Seele, die still fließenden Wasser der Quelle Siloah. Ihre Tage waren von wundervollem Frieden erfüllt.
Ich danke dir, o Herr, dass du mich die schreckliche Vergangenheit hast vergessen lassen. Ich danke dir für deinen Beistand. Ohne dich käme ich nicht über meine schreckliche Vergangenheit hinweg. Danke... danke... danke...
Nach dem Nachtoffizium kehrten die Nonnen in ihre Zellen zurück, um bis zu den Laudes bei Sonnenaufgang zu schlafen.
Im Dunkel der Nacht gelangten Ramon Acoca und seine Männer rasch bis vor das Nonnenkloster. »Jaime Miro und seine Leute sind natürlich bewaffnet«, sagte der Oberst, als er sie für die Erstürmung einteilte, »geht also kein unnötiges Risiko ein.«
Während er die Klosterfassade betrachtete, erschien vor seinem inneren Auge jenes andere Klosterportal, aus dem baskische Aufständische quollen, deren Waffen Susanna in einem Kugelhagel hatten zusammenbrechen lassen.
»Gebt euch keine Mühe, Jaime Miro lebend gefangen zu nehmen«, fügte er hinzu.
Schwester Megan wachte durch die Stille auf. Es war eine ungewohnte Stille, eine sich bewegende Stille, in der die Luft zu strömen und Körper zu flüstern schienen. Das waren Geräusche, die sie in ihren eineinhalb Jahrzehnten im Kloster Avila niemals zuvor gehört hatte. Sie wurde plötzlich von einer Vorahnung schlimmer Dinge erfasst.
Sie stand in der Dunkelheit auf und öffnete lautlos die Zellentür. Zu ihrer Verblüffung war der lange Korridor mit den steinernen Bodenplatten voller Männer. Ein Riese mit narbigem Gesicht kam aus der Zelle der Ehrwürdigen Mutter und zerrte die Äbtissin am Arm hinter sich her. Schwester Megan starrte ihn erschrocken an. Ich habe einen Alptraum, dachte sie. Diese Männer können nicht wirklich hier sein.
»Wo halten Sie ihn versteckt?« fragte Oberst Acoca laut.
Auf dem Gesicht der Ehrwürdigen Mutter Betina mischten sich Schock und Entsetzen. »Pst! Dies ist ein Tempel Gottes. Sie entweihen ihn.« Ihre Stimme zitterte. »Sie müssen ihn sofort verlassen.«
Der Oberst packte ihren Arm noch fester und schüttelte sie. »Ich will wissen, wo Miro ist, Schwester.«
Der Alptraum war Wirklichkeit.
Auch andere Zellentüren wurden jetzt geöffnet, und Nonnen, aus deren Mienen völlige Verwirrung sprach, erschienen auf den Schwellen. Nichts in ihrem ganzen bisherigen Ordensleben hatte sie auf dieses außergewöhnliche Ereignis vorbereitet.
Oberst Acoca stieß die Äbtissin beiseite und wandte sich an Patricio Arrieta, einen seiner Offiziere. »Lassen Sie das Kloster durchsuchen. Von oben bis unten.«
Acocas Männer schwärmten aus: in die Kapelle, ins Refektorium und in die Zellen, wo sie noch schlafende Nonnen grob wach rüttelten, um sie dann vor sich durch die Gänge in die Kapelle zu treiben. Die Konventualin-nen gehorchten wortlos und hielten sich auch jetzt noch an das Schweigegebot. Schwester Megan hatte den Eindruck, einen Stummfilm zu sehen.
Rachedurst erfüllte Acocas Männer. Sie waren alle Falangisten und erinnerten sich nur allzu gut daran, wie die Kirche sich während des Bürgerkriegs von ihnen abgewandt und die Loyalisten im Kampf gegen Generalissimus Franco, ihren geliebten Führer, unterstützt hatte. Dies war ihre Chance, sich wenigstens teilweise dafür zu rächen. Die schweigende Stärke der Zisterzienserinnen brachte die Männer immer mehr gegen sie auf.
Aus einer Zelle, an der Acoca vorbeikam, drang ein Hilfeschrei. Der Oberst warf einen Blick hinein und sah, wie einer seiner Männer einer Nonne den Habit vom Leib riss. Acoca ging weiter.
Schwester Lucia wurde durch laute Männerstimmen geweckt. Sie setzte sich in panischer Angst auf. Die Polizei hat dich aufgespürt, war ihr erster Gedanke. Du musst hier raus! Aber der einzige Fluchtweg führte durch die Klosterpforte.
Sie stand hastig auf und sah vorsichtig in den Korridor hinaus. Dort bot sich ihr ein wahrhaft erstaunliches Bild. Auf dem Korridor drängten sich keine Polizeibeamten, sondern bewaffnete Männer in Zivil, die Lampen und Möbelstücke zerschlugen. Während sie herumliefen, herrschte überall größte Verwirrung.
Mitten in diesem Chaos stand Ehrwürdige Mutter Beti-na, betete stumm und sah hilflos zu, wie die Männer ihr geliebtes Kloster verwüsteten. Schwester Megan trat an ihre Seite, und Lucia schloss sich den beiden an.
»Ver.. was geht hier vor? Wer sind die Kerle?« fragte Lucia. Das waren ihre ersten laut gesprochenen Worte seit ihrem Eintritt ins Kloster.
Die Ehrwürdige Mutter schob ihre rechte Hand dreimal unter die linke Achseclass="underline" das Zeichen für verstecken.
Lucia starrte sie ungläubig an. »Jetzt dürfen Sie ruhig sprechen. Wir müssen um Himmels willen zusehen, dass wir hier rauskommen! Und ich meine wirklich um Himmels willen.«
Patricio Arrieta, der die Suchaktion geleitet hatte, hastete auf Acoca zu. »Wir haben alles durchsucht, Oberst«, meldete er. »Nirgends eine Spur von Miro oder seiner Bande.«
»Weitersuchen«, befahl Acoca ihm stur.
In diesem Augenblick erinnerte die Ehrwürdige Mutter sich an den einzigen Schatz, den das Kloster besaß. Sie winkte Schwester Teresa heran und flüsterte ihr zu: »Ich habe einen Auftrag für Sie. Holen Sie das goldene Kruzifix aus der Sakristei und bringen Sie’s ins Kloster Men-davia. Sie müssen es von hier fortschaffen. Beeilen Sie sich!«
Schwester Teresa zitterte so sehr, dass ihr Schleier sich wellenförmig bewegte. Sie starrte die Ehrwürdige Mutter wie gelähmt an. Nach drei in diesem Kloster verbrachten Jahrzehnten erschien ihr der Gedanke, es verlassen zu sollen, geradezu unvorstellbar. Sie hob ihre Hand und signalisierte: Ich kann nicht.
Die Ehrwürdige Mutter war der Verzweiflung nahe. »Unser Kruzifix darf diesen Teufeln in Menschengestalt nicht in die Hände fallen. Sie müssen es für Jesus tun!«
In Schwester Teresas Augen trat ein Leuchten. Sie richtete sich zu voller Größe auf, machte das Zeichen "Für Jesus!” und hastete in Richtung Kapelle davon.
Schwester Graciela näherte sich der Gruppe und starrte die um sie herum herrschende Verwüstung sprachlos an.
Die Männer wurden immer gewalttätiger und zertrümmerten alles, was ihnen unter die Finger kam. Oberst Acoca beobachtete ihr Zerstörungswerk anerkennend.
Lucia wandte sich an Megan und Graciela. »Ich weiß nicht, was ihr vorhabt, aber ich verdrücke mich lieber. Kommt ihr mit?«