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»Sei versichert, daß wir vollstes Verständnis dafür aufbringen würden, wenn du uns diese Bitte abschlagen solltest, denn unsere Bitte stellt ein Eindringen in deine Privatsphäre dar.« Shimon drückte sich so umständlich und gewählt aus wie sonst nur bei seiner Arbeit. »Würdest du uns die Erlaubnis erteilen, die hölzernen Gitter von unserem Balkon im Lichtschacht zu entfernen? Wir geben dir selbstverständlich unser Wort darauf, daß wir niemals Abfälle oder Unrat hinunterwerfen werden. Wir wären überglücklich, wenn wir bessere Luft atmen und auf deinen wunderschönen Garten hinabblicken könnten.«

Aurelia strahlte übers ganze Gesicht. »Mit großer Freude gewähre ich euch diese Bitte. Aber ich kann genausowenig dulden, daß Abfall und Unrat durch die Fenster auf die Straße hinausgeworfen wird. Ihr müßt mir also versprechen, daß ihr allen Abfall über die Straße zur öffentlichen Latrine tragt.

Hoch erfreut gab Shimon ihr sein Wort.

Die Gitter im vierten Stock waren schnell entfernt. Nur an den Stellen, wo sie die Säulen einkleideten, blieben sie auf Gaius Matius’ Bitte stehen, damit der Efeu weiter emporranken konnte. Die Juden hatten den Anfang gemacht, die anderen Mieter zogen bald nach: Als Nächste baten der Erfinder und der Gewürzhändler im ersten Stock um die Erlaubnis, die Gitter entfernen zu dürfen, dann fragte ein Stockwerk nach dem anderen, bis nur noch die winzigen Kammern der Freigelassenen in den obersten beiden Stockwerken vergittert waren.

Im Frühjahr vor der Schlacht von Aquae Sextiae kam Caesar zu einem kurzen Besuch nach Rom und überbrachte Berichte von jenseits der Alpen. Bei diesem Besuch wurde Aurelia wieder schwanger. Im darauffolgenden Februar gebar sie ein zweites Mädchen, wieder fand die Geburt in ihrem eigenen Haus statt, nur die Hebamme und Cardixa waren dabei. Dieses Mal merkte sie gleich, daß sie zuwenig Milch hatte. Die zweite kleine Julia - sie sollte ihr Leben lang unter dem kindischen Spitznamen Ju-Ju leiden - wurde sofort einem Dutzend stillender Mütter, verteilt über alle Stockwerke der insula, an die Brust gelegt.

»Das ist gut«, schrieb Caesar als Antwort auf ihren Brief mit der Nachricht von Ju-Jus Geburt. »Damit haben wir die beiden obligatorischen Mädchen hinter uns gebracht. Beim nächsten Mal, wenn ich wieder in Rom bin, können wir mit den julianischen Söhnen anfangen.«

So ähnlich reagierte auch ihre Mutter Rutilia. Auch sie meinte, Aurelia müsse nach der Geburt einer weiteren Tochter getröstet werden.

»Du hättest wissen können, daß das überflüssig war!« lachte Cotta.

Rutilia war etwas verstimmt. »Ja, schon. Aber ehrlich, Marcus Aurelius, meine Tochter wird mir immer ein Rätsel bleiben! Ich wollte sie aufmuntern, aber sie zog nur eine Augenbraue hoch und ließ mich wissen, daß ihr das Geschlecht ihrer Kinder völlig gleichgültig sei. Wichtig sei nur, daß die Kleinen gesund seien.«

»Aber das ist doch eine wunderbare Einstellung! Vor mehr als vierhundert Jahren haben unsere Vorfahren aufgehört, Mädchen gleich nach der Geburt auszusetzen - wenn sie es sich leisten konnten, sie durchzufüttern. Was für ein Fortschritt, wenn sich eine Mutter jetzt auch über Töchter freut!«

»Ja, schon! Aber du hättest sie sehen sollen. Nicht ihre Einstellung stört mich, nein, sie hat mir das Gefühl gegeben, ich sei eine Närrin, weil ich etwas so Selbstverständliches ausgesprochen habe«, gab Rutilia beleidigt zurück.

Publius Rutilius Rufus war eindeutig parteiisch in diesem Streit. »Sie ist wundervoll«, schmunzelte er.

»Ja, was sonst!« sagte Rutilia.

»Ist es ein hübsches kleines Mädchen?«

»Ausgesprochen hübsch sogar; was hast du denn erwartet? Die zwei müßten sich schon auf den Kopf stellen, um ein häßliches Kind zu zeugen. Und selbst dann hätten sie schlechte Chancen«, knurrte Rutilia.

»Sachte, sachte, was sind das für Töne von einer ehrbaren Ehefrau aus römischem Adel!« rügte Cotta und zwinkerte Rutilius Rufus schelmisch zu.

»Euch sollen doch die Zähne ausfallen!« rief Rutilia wütend und warf mit Kissen nach den beiden.

Kurz nach Ju-Jus Geburt mußte sich Aurelia aufraffen, mit den Männern von der Taverne an der Ecke zu verhandeln. Sie hatte sich lange vor dieser Aufgabe gedrückt. Obwohl die Taverne baulich zu ihrer insula gehörte, konnte sie dort keine Miete kassieren, denn der Ort galt als Treffpunkt einer religiösen Bruderschaft. Die Taverne hatte zwar nicht den Status eines Tempels oder aedes, war aber immerhin in den Büchern des Stadtprätors offiziell registriert.

Die Taverne war für alle eine Plage. Tag und Nacht wurde dort gelärmt, die Besucher stießen andere Leute vom Bürgersteig, aber keiner hielt es für nötig, den ständig wachsenden Müllberg auf dem Bürgersteig einmal wegzuräumen. Cardixa war die erste, die mit der düsteren Seite der religiösen Bruderschaft in der Taverne in Berührung kam. Sie sollte Salbe für Ju-Jus wunden Popo kaufen. Als sie den kleinen Laden neben Aurelias Vordertür betrat, fand sie die Besitzerin - eine alte Frau aus Galatien, die sich mit Heilkräutern und Salben, Wundermitteln und Säften auskannte - angstvoll an die Rückwand gedrängt. Zwei niederträchtig aussehende Männer verhandelten darüber, welche der vielen Flaschen und Gläser sie zuerst zerschlagen sollten. Dank Cardixa ging nichts zu Bruch - dafür schlug sie gehörig auf die beiden Übeltäter ein. Mit ziemlichem Nachdruck holte sie die Wahrheit aus der völlig verschüchterten alten Frau heraus. Sie gestand, daß sie ihre Schutzgebühr nicht bezahlen könne und deshalb von den Männern bedroht worden sei.

»Jeder Laden muß der Bruderschaft eine Gebühr bezahlen«, berichtete Cardixa ihrer Herrin. »Sie behaupten, das Geld sei der Lohn dafür, daß sie die Gegend vor Überfällen und Diebstählen schützten. Dabei sind sie die einzigen, die Geschäftsleute überfallen und ausrauben! Vor allem, wenn die Ladenbesitzer die Gebühr nicht bezahlen. Die arme alte Galaterin hat erst vor kurzem ihren Mann begraben, es war eine schöne Beerdigung, jetzt hat sie keinen Sesterz mehr übrig, dominilla

»Jetzt reicht’s! Komm, Cardixa, denen werden wir es zeigen!« Aurelia wappnete sich zum Kamp£

Energisch marschierte sie zur Tür hinaus und in jeden Laden am Vicus Patricii hinein. Alle Ladenbesitzer mußten ihr sagen, wieviel Schutzgebühr sie an die ominöse Bruderschaft bezahlten. Aus den Berichten schloß sie, daß sich die Geschäfte der Bruderschaft weit über ihre insula hinaus erstreckten, und nachdem sie schließlich die gesamte Nachbarschaft abgeklappert hatte, kannte sie die ganze Geschichte dieser erstaunlich unverfrorenen Erpressungen. Selbst die beiden Frauen von der öffentlichen Latrine auf der anderen Seite der Subura Minor mußten der Bruderschaft einen gewissen Teil ihrer Einnahmen abtreten. Sie verkauften Schwämme, die an kleinen Stöcken befestigt waren, mit denen sich besser betuchte Römer nach einem Besuch der Latrine den Hintern säuberten. Außerdem holten die Frauen auf Wunsch die Nachttöpfe aus den Wohnungen ab, leerten und reinigten sie. Als die Bruderschaft davon erfuhr, zerschlugen sie alle Nachttöpfe, und die Frauen mußten neue beschaffen. Die Bäder neben der öffentlichen Latrine waren, wie alle Bäder in Rom, in Privatbesitz. Hier erhob die Bruderschaft ihre sogenannten Gebühren dafür, daß die Kunden nicht so lange unter Wasser gehalten wurden, bis sie fast ertrunken waren.

Am Ende ihrer Ermittlungen schäumte Aurelia vor Wut. Sie beschloß, erst einmal nach Hause zu gehen und sich zu beruhigen, bevor sie sich in die Höhle des Löwen wagte.

»Von meinem Haus aus! Meinem Eigentum!« empörte sie sich.

»Mach dir keine Sorgen, Aurelia, wir werden ihnen die gerechte Strafe verpassen!« beschwichtigte Cardixa.

»Wo ist Ju-Ju?« fragte Aurelia und holte tief Atem.

»Oben im vierten Stock. Rebekka ist heute morgen mit Stillen an der Reihe.«