»Und wenn es den Preis nicht wert ist?«
Er schaute sie mit großen Augen an, verwundert, daß sie so beschränkt dachte. »Es geht nicht um den Preis! Niemals! Darum geht es uns nicht, keinem von uns. Wenn sie uns ins Geschirr nehmen, damit wir unsere sieben Runden auf der Rennbahn drehen, kämpfen wir gegen uns selbst. Welche Herausforderung könnte es denn noch geben für Gaius Marius? Er ist das beste Pferd auf dem Platz. So rennt er gegen sich selbst an. Genau wie ich. Ich kann es! Ich werde es tun! Aber weil ich es will, nicht für einen Preis!«
Aurelia errötete. »Natürlich.« Sie stand auf und reichte ihm die Hand. »Komm, Lucius Cornelius! Trotz der Hitze ist es ein wunderschöner Tag. Die Subura wird ganz sich selbst überlassen sein, alle, die es sich leisten können, Rom im Sommer zu verlassen, sind weg. Nur die Armen und die Verrückten sind übriggeblieben! Und ich. Komm, wir gehen spazieren, und wenn wir zurück sind, essen wir zusammen. Ich lasse Onkel Publius rufen - er soll uns Gesellschaft leisten. Ich glaube, er ist noch in der Stadt.« Sie verzog das Gesicht. »Ich muß vorsichtig sein, das verstehst du doch, Lucius Cornelius. Mein Mann vertraut mir ebensosehr, wie er mich liebt, das ist schon viel wert. Aber es würde ihm nicht gefallen, wenn es Gerüchte um mich gäbe. So versuche ich, eine altmodische Ehefrau zu sein. Er wäre entsetzt, wenn ich dich nicht zum Essen einladen würde - aber wenn Onkel Publius auch kommen kann, wird Gaius Julius mich loben.«
Sulla sah sie liebevoll an. »Was für einen Unsinn Männer über ihre Frauen im Kopf haben! Du hast nichts von einer Frau an dir, über die sich Gaius Julius während militärischer Gelage im Feld den Kopf zerbrechen müßte.«
»Ich weiß das, aber er weiß es nicht.«
Die Hitze auf dem Vicus Patricii legte sich bleischwer auf ihre Köpfe. Aurelia schnappte nach Luft und zog sich schnell ins Haus zurück. »Na gut, dann eben nicht. Ich hätte nicht gedacht, daß es so heiß ist. Eutychus soll in die Carinae zu Onkel Publius gehen, ein bißchen Bewegung kann ihm nicht schaden. Und wir setzen uns in den Garten.« Sie ging voraus, dabei sprach sie weiter. »Kopf hoch, Lucius Cornelius, bitte! Ich bin sicher, es wird alles gut werden. Geh zurück nach Circei, zu deiner netten, langweiligen Frau. Mit der Zeit wirst du sie besser leiden können, das verspreche ich dir. Und es wird dir besser gehen, wenn du Delmatica überhaupt nicht mehr siehst. Wie alt bist du jetzt?«
Sulla fühlte sich allmählich freier. Seine Miene hellte sich auf, sein Lächeln wirkte natürlicher. »Dieses Jahr habe ich einen Meilenstein hinter mich gebracht, Aurelia. Am Neujahrstag bin ich vierzig geworden.«
»Du bist doch noch kein alter Mann!«
»In mancher Hinsicht schon. Ich war noch nicht einmal Prätor; dabei bin ich schon ein Jahr über das Alter für einen Prätor hinaus.«
»Ach was, du siehst schon wieder so finster aus, dabei hast du gar keinen Grund. Schau dir das alte Schlachtroß Gaius Marius an! Mit fünfzig ist er das erste Mal Konsul geworden, acht Jahre über der unteren Altersgrenze. Hättest du ihn für das beste Pferd im Rennen gehalten? Hättest du auf ihn als bestes Pferd im Oktober gewettet? Und doch war er über fünfzig, als er seine größten Taten vollbracht hat.«
Sullas Stimmung hob sich. »Welcher Gott hat mir den glücklichen Gedanken eingegeben, dich heute zu besuchen? Du bist eine gute Freundin, Aurelia. Eine Hilfe.«
»Nun, vielleicht werde ich dich eines Tages um Hilfe bitten.«
»Du mußt es mir nur sagen.« Er blickte nach oben und bemerkte, daß die Balkone der oberen Stockwerke keine Gitter hatten. »Du bist aber mutig! Keine Gitter? Und sie mißbrauchen diese Gunst nicht?«
»Nein.«
Er lachte, ein Kichern echten Vergnügens drang aus seiner Kehle. »Das glaube ich gerne, daß dir alle Raufbolde der Subura aus der Hand fressen!«
Aurelia nickte und lachte ebenfalls. Sie schaukelte sanft auf ihrem Gartenstuhl hin und her. »Mir gefällt das Leben hier, Lucius Cornelius. Um ehrlich zu sein, mir würde es nichts ausmachen, wenn Gaius Julius niemals das Geld für ein Haus auf dem Palatin zusammenbekäme. Hier in der Subura kann ich mich sinnvoll betätigen, hier leben viele interessante Menschen. Ich laufe mein eigenes Rennen, verstehst du?«
»Da hast du aber noch einen weiten Weg vor dir.«
»Du auch«, sagte Aurelia.
Julia hatte natürlich geahnt, daß Marius nicht den ganzen Sommer in Cumae bleiben würde, auch wenn er davon gesprochen hatte, daß er erst Anfang September nach Rom zurückkehren wolle. Aber sobald er wieder einigermaßen im Gleichgewicht war, würde er sich wieder nach der Rennbahn zurücksehnen. So genoß sie jeden einzelnen Tag, der ihnen geschenkt war. Sie freute sich, daß Marius seine Amtstoga und seinen Brustharnisch ablegte und auf dem Lande für eine kurze Zeit zum Gutsherren wurde, wie es alle seine Vorfahren gewesen waren. An einem kleinen Strand unterhalb ihrer prächtigen Villa gingen sie im Meer schwimmen, sie gönnten sich Austern, Krabben, Garnelen und Thunfisch in Hülle und Fülle. Lange Spaziergänge führten sie über die spärlich besiedelten Hügel. Überall wuchsen Rosen und erfüllten die Luft mit ihrem Duft. Sie hatten selten Gäste, und wenn ein überraschender Besucher kam, taten sie, als wären sie ausgegangen. Marius baute ein kleines Boot für seinen Sohn, das aussah wie ein großer Fisch, zum Vergnügen der Eltern ebenso wie zum Vergnügen des kleinen Marius. Noch nie, dachte Julia, war sie so glücklich gewesen wie in diesem wunderbaren Sommer in Cumae. Sie war dankbar für jeden Tag.
Aber Marius kehrte nicht nach Rom zurück. In der ersten Nacht des Sextilis erlitt er einen kleinen Schlaganfall. Er spürte keinen Schmerz, er bemerkte nur beim Aufwachen, daß sein Kissen ein bißchen naß war; anscheinend hatte er im Schlaf gesabbert. Als er zum Frühstück kam, saß Julia auf der Terrasse über dem Meer. Er starrte sie zutiefst verwundert an, denn so einen Ausdruck hatte er noch nie auf ihrem Gesicht gesehen.
»Was ist los«, nuschelte er. Seine Zunge war dick und schwerfällig, ein sehr eigenartiges Gefühl.
»Dein Gesicht...« Julia war kreidebleich geworden.
Er befühlte sein Gesicht, die Finger seiner linken Hand waren ebenso unbeholfen wie seine Zunge. »Was ist das?« fragte er.
»Dein Gesicht - auf der linken Seite ist es heruntergerutscht.« Sie schnappte nach Luft. Jetzt begriff sie. »Oh, Gaius Marius! Du hast einen Schlaganfall gehabt!«
Da er keine Schmerzen hatte und ihm keine Veränderung bewußt war, wollte er ihr nicht glauben, bis sie ihm einen großen, polierten, silbernen Spiegel reichte und er sich selbst betrachten konnte. Die rechte Hälfte seines Gesichts war fest und straff, er hatte wenig Falten für einen Mann seines Alters. Die linke Hälfte hingegen sah aus wie eine Wachsmaske, die in der Hitze einer zu nahen Fackel dahinschmolz, weglief, herunterrutschte.
»Ich fühle keinen Unterschied!« Marius war fassungslos. »Nicht im Kopf, wo man doch die Krankheit spüren müßte. Die Zunge bildet die Worte nicht richtig, aber im Kopf weiß ich, was ich sagen will, und du verstehst, was ich sage. Und ich verstehe, was du sagst, also habe ich meine Sprachvermögen nicht verloren! Meine linke Hand ist ungeschickt, aber ich kann sie bewegen. Und ich habe keine Schmerzen, überhaupt keine Schmerzen!«
Zitternd vor Wut weigerte er sich, einen Arzt kommen zu lassen, und Julia gab nach, weil sie fürchtete, sein Zustand könne sich verschlimmern, wenn sie darauf bestünde. Den ganzen Tag über sorgte sie selbst für ihn, kurz nach Sonnenuntergang überredete sie ihn, ins Bett zu gehen. Sie konnte ihm versichern, daß die Lähmung genauso aussah wie am Morgen.