»Wenn die Menschen sich kein Getreide leisten können, dann können wir es uns nicht leisten, Brot zu backen!« schrieen die Bäcker und Müller.
»Wenn die Menschen hungrig sind, arbeiten sie nicht gut!« schrieen die Bauunternehmer.
»Wenn die Menschen nicht genug Geld haben, um ihre Kinder satt zu kriegen, was wird dann mit ihren Sklaven passieren?« schrieen die Freigelassenen.
»Wenn die Menschen ihr ganzes Geld für Nahrungsmittel ausgeben müssen, werden sie ihre Miete nicht bezahlen können!« schrieen die Hausbesitzer.
»Wenn die Menschen so hungrig sind, daß sie anfangen, die Läden zu plündern und Marktstände umzuwerfen, was geschieht dann mit uns?« schrieen die Kaufleute.
»Wenn die Menschen auf der Suche nach Nahrung unsere Gärten zertrampeln, haben wir nichts zu verkaufen!« schrieen die Gärtner.
Es ging nämlich nicht nur darum, daß ein paar tausend Proletarier verhungern würden. Wenn sich Roms Mittel- und Unterschicht das Essen nicht mehr leisten konnte, bedeutete das Verluste für viele andere Firmen und Geschäfte. Eine Hungersnot war, kurz gesagt, eine wirtschaftliche Katastrophe. Aber der Senat trat nicht zusammen, nicht einmal in abseits gelegenen Tempeln, und so hing es an Saturninus, eine Lösung vorzuschlagen. Doch seine Lösung beruhte auf einer falschen Voraussetzung - nämlich auf der Voraussetzung, daß es Korn gab, das der Senat kaufen könnte. Saturninus glaubte felsenfest, daß es Korn gab und daß die Krise nur inszeniert war - von der konservativen Clique im Senat und den großen Getreidehändlern.
Tausende von Gesichtern auf dem Forum reckten sich ihm entgegen wie die Blumen der Sonne. Die Macht seiner Redekunst begeisterte ihn selbst, er glaubte bald jedes Wort, das er in die Menge schrie. Er glaubte, was er auf jedem Gesicht in der Menge las, er glaubte, Rom könnte auf eine völlig neue Art regiert werden. Was bedeutete schon das Amt des Konsuls? Was bedeutete schon der Senat, wenn eine Menschenmenge wie diese genügte, daß die Senatoren die Schwänze einzogen und sich in ihre Häuser verkrochen? Wenn es darauf ankam, zählte nur diese Menschenmenge. Sie hatten die eigentliche Macht, und diejenigen, die glaubten, sie besäßen die Macht, hatten sie nur so lange, wie die Köpfe in dieser Menschenmenge es ihnen erlaubten.
Also, was bedeutete das Amt des Konsuls schon? Was bedeutete der Senat schon? Nur Gerede, heiße Luft, sonst nichts! Es gab keine Armee in Rom, außer dem Trainingslager für Rekruten bei Capua gab es nicht einmal eine Armee in der Nähe von Rom. Die Konsuln und der Senat besaßen Macht ohne Waffengewalt, ohne ein Heer als Rückendeckung. Aber hier auf dem Forum war die Autorität, hier war die Rückendeckung der eigentlichen Macht. Warum mußte ein Mann Konsul sein, um der Erste Mann in Rom zu werden? Das war überhaupt nicht nötig! Hatte Gaius Gracchus das auch begriffen? Oder hatte er sich umbringen müssen, bevor er es begreifen konnte?
Ich, dachte Saturninus, werde der Erste Mann in Rom sein! Er konnte sich nicht satt sehen an den Gesichtern in der riesigen Menschenmenge. Der Erste Mann in Rom, aber nicht als Konsul. Als Volkstribun. Die Volkstribunen, nicht die Konsuln, besaßen die wirkliche Macht. Und wenn Gaius Marius sich anscheinend bis in alle Ewigkeit zum Konsul wählen lassen konnte, was sollte ihn, Lucius Appuleius Saturninus, daran hindern, sich bis in alle Ewigkeit zum Volkstribunen wählen zu lassen?
Dennoch wartete Saturninus einen ruhigen Tag ab, bis er sein Korngesetz vorlegte. Keine riesige Menschenmenge auf dem Forum durfte dem Senat einen Vorwand liefern, der Versammlung der Plebs Krawalle, Unruhen und Gewaltanwendung vorzuwerfen und deshalb das Gesetz für ungültig zu erklären. Lucius Appuleius hatte die Ereignisse um sein zweites Ackergesetz nicht vergessen, den Verrat von Gaius Marius, das Exil von Metellus Numidicus. Die Tatsache, daß das Gesetz immer noch auf den Tafeln stand, war sein Verdienst, nicht das Verdienst von Gaius Marius. Deshalb hatten die Veteranen der Proletarierarmee ihm, Saturninus, die Landzuweisungen zu verdanken.
Im November gab es nur wenige Feiertage, vor allem wenige, an denen das Volk von Rom zur Abstimmung einberufen werden durfte. Der Tod eines sagenhaft reichen Ritters brachte endlich die erwartete Gelegenheit. Die Söhne des Ritters veranstalteten zu Ehren ihres Vaters prächtige Gladiatorenspiele. Solche Spiele fanden normalerweise auf dem Forum Romanum statt, aber weil sich dort täglich die Menschenmassen sammelten, wich man mit den Spielen in den Circus Flaminius aus.
Der junge Caepio durchkreuzte Saturninus’ Pläne. Die Versammlung der Plebs war einberufen, die Zeichen standen günstig, die normalen Forumsbesucher füllten den Platz, denn die Mengen drängten sich auf dem Circus Flaminius. Die anderen Volkstribunen waren damit beschäftigt, durch Losentscheid festzulegen, in welcher Reihenfolge die Tribus abstimmen sollten. Saturninus stand vorne auf der Rednerbühne und mahnte die Wähler, in seinem Sinne abzustimmen.
Saturninus hatte nicht bedacht, daß die Senatoren die Vorgänge auf dem Forum aufmerksam verfolgten, obgleich keine Senatsversammlungen stattfanden. Einige Mitglieder des Senats freilich verachteten das feige Verhalten dieses Gremiums ebenso wie Lucius Appuleius Saturninus. Sie waren alle jung, gerade als Quästoren gewählt oder höchstens zwei Jahre älter. Sie hatten Verbündete unter den Söhnen der Senatoren und der Ritter der Ersten Vermögensklasse, die noch zu jung waren, um in den Senat einzutreten oder höhere Posten in den Unternehmen ihrer Väter zu bekleiden. Sie trafen sich grüppchenweise in ihren Häusern, der junge Caepio und der junge Metellus führten sie an. Und sie hatten einen reifen Vertrauten und Berater, der ihnen Richtung und Ziel wies. Ansonsten wären ihre Pläne möglicherweise in endlosen Diskussionen und Strömen von Wein untergegangen.
Der Vertraute und Berater wurde schnell eine Art Idol für sie, denn er verkörperte alles, was junge Männer bewundern - er war waghalsig, unerschrocken, bewahrte einen kühlen Kopf, war gebildet, so etwas wie ein Lebemann und Frauenheld, witzig, vornehm und hatte eine beeindruckende Reihe von Kriegserfahrungen vorzuweisen. Er hieß Lucius Cornelius Sulla.
Während Marius allem Anschein nach für mehrere Monate in Cumae darniederlag, hatte Sulla beschlossen, den Ereignissen in Rom nicht tatenlos zuzusehen. Sulla handelte nicht nur aus Treue zu Marius. Nach der Unterhaltung mit Aurelia hatte er seine Zukunftsaussichten im Senat kühl abgeschätzt und war zu dem Schluß gekommen, daß Aurelia recht hatte: Er war wie Gaius Marius das, was die Gärtner einen Spätblüher nannten. Es war zwecklos, wenn er versuchte, unter den Senatoren, die älter waren als er, Freunde und Verbündete zu finden. Bei Scaurus zum Beispiel hatte er keine Chance. Das hatte immerhin den Vorteil, daß er Scaurus’ reizender kleiner Kindfrau nicht mehr begegnen würde. Delmatica war inzwischen Mutter einer kleinen Aemilia Scaura. Die Nachricht, daß Scaurus Vater einer Tochter geworden war, hatte Sulla größtes Vergnügen bereitet. Der geile alte Bock hatte nichts anderes verdient.
Sulla dachte auch an seine eigene politische Karriere, während er damit beschäftigt war, Marius’ Zukunft zu retten. Er umwarb die jüngere Generation der Senatoren, dabei vor allem die, die leicht zu beeinflussen, nicht sehr intelligent, aber reich waren und aus wichtigen Familien kamen. Manche waren auf so arrogante Weise selbstsicher, daß jede Form von Schmeichelei Erfolg hatte. Sein Hauptinteresse galt dem jungen Caepio und Metellus dem Ferkel. Der junge Caepio war ein etwas beschränkter Patrizier, der mit jungen Männern wie Marcus Livius Drusus - den Sulla erst gar nicht zu umwerben versuchte - verkehrte. Metellus das Ferkel wußte, was bei den älteren boni vor sich ging. Niemand hätte es besser verstanden als Sulla, diesen jungen Männern den Hof zu machen, wenn auch nicht im entferntesten mit sexuellen Absichten. Bald war er es, der Hof hielt: Er wirkte immer leicht amüsiert über ihre jugendlichen Posen, aber auf eine Art, mit der er anzudeuten schien, daß er vielleicht seine Meinung ändern und die jungen Leute ernst nehmen wurde. Es waren keine Jugendlichen, die Ältesten waren nur sieben, acht Jahre jünger als er, die Jüngsten fünfzehn, sechzehn Jahre jünger; alle alt genug, um sich selbst als reife Erwachsene zu betrachten, und jung genug, um sich von Sulla aus dem Gleichgewicht bringen zu lassen. Und sie waren der Kern der nächsten Senatorengeneration. Für einen Mann, der unbedingt Konsul werden wollte, würden sie irgendwann von größter Bedeutung sein.