»Ich habe eine Nachricht von Aurelia«, sagte Sulla.
Marius, Julia und Rutilius Rufus blickten ihn neugierig an.
»Du triffst dich mit ihr, Lucius Cornelius?« fragte Rutilius Rufus, ganz der wachsame Onkel.
»Du mußt dich nicht gleich wie eine Glucke aufführen, Publius Rutilius! Ja, ich treffe sie ab und zu, wir sind in gewisser Weise Gleichgesinnte. Sie sitzt dort unten in der Subura, und das ist auch meine Welt. Ich habe dort immer noch Freunde, Aurelia liegt gewissermaßen auf meinem Weg.«
»Ach je, ich hätte sie auch zum Abendessen einladen sollen«, sagte Julia und bedauerte ihr Versehen. »Dort unten vergißt man sie so leicht.«
»Das nimmt sie dir nicht übel«, sagte Sulla. »Versteht mich nicht falsch, sie liebt ihre Welt. Aber sie bleibt gern auf dem laufenden, was die Ereignisse auf dem Forum betrifft, und das ist meine Aufgabe. Du bist ihr Onkel, Publius Rutilius, du willst immer alle Schwierigkeiten von ihr fernhalten. Ich dagegen erzähle ihr alles. Ich stelle immer wieder verblüfft fest, wie klug sie ist.«
»Wie lautet die Botschaft?« fragte Marius und nippte an einem Glas Wasser.
»Sie stammt von ihrem Freund Lucius Decumius, dem eigenartigen kleinen Kerl, der den Kreuzwegeverein in ihrem Mietshaus leitet, und lautet ungefähr so: Wenn ihr geglaubt habt, es drängten sich Massen auf dem Forum, habt ihr bis jetzt noch gar nichts gesehen. An dem Tag, an dem die Volkstribunen gewählt werden, werdet ihr nicht in eine Pfütze, sondern in ein Meer von Gesichtern schauen.«
Lucius Decumius behielt recht. Bei Sonnenaufgang stiegen Gaius Marius und Lucius Cornelius Sulla auf die Arx des Kapitols. Sie lehnten an der niedrigen Brüstung, vor der die Mauern der Lautumiae steil abfielen, das Forum Romanum lag direkt unter ihnen. So weit das Auge reichte, erblickten sie ein einziges Menschenmeer, dicht gedrängt vom Clivus Capitolinus bis zur Velia. Die Menschen verhielten sich ruhig und diszipliniert, dennoch war der Anblick atemberaubend und ein bißchen bedrohlich.
»Was soll das?« fragte Marius.
»Lucius Decumius sagt, sie wollen nur zeigen, daß sie da sind. Heute werden die neuen Volkstribunen gewählt. Sie haben gehört, daß Saturninus kandidieren wird, und mit ihm rechnen sie sich die besten Chancen auf volle Bäuche aus. Der Hunger hat gerade erst angefangen, Gaius Marius. Und sie wollen nicht hungern«, sagte Sulla in gleichmütigem Ton.
»Aber sie können das Ergebnis der Wahlen in den Tribus und in den Zenturien doch gar nicht beeinflussen! Fast alle dürften zu den vier städtischen Abstimmungsgruppen gehören.«
»Das ist richtig. Und von den einunddreißig ländlichen Tribus werden nur wenige hier sein außer denen, die ohnehin in Rom leben«, sagte Sulla. »Heute ist keine Feiertagsstimmung, die Wähler vom Lande anlocken könnte. Nur wenige von denen, die dort unten stehen, werden also tatsächlich ihre Stimme abgeben können. Das wissen sie. Sie sind nicht hier, um zu wählen. Sie sind einfach hier, um uns zu zeigen, daß es sie gibt.«
»Ist das Saturninus’ Idee?« fragte Marius.
»Nein. Seine Gefolgschaft hast du an den Kalenden gesehen und jeden Tag seither. Abschaum. Angehörige der Kreuzwegevereine, ehemalige Gladiatoren, Diebe und Unzufriedene, leichtgläubige Ladenbesitzer, denen das Geld ausgegangen ist, Freigelassene, denen der Hader mit ihren ehemaligen Besitzern langweilig geworden ist, und viele, die sich ein paar Denare ausrechnen, wenn sie dafür sorgen, daß Lucius Appuleius Volkstribun bleibt.«
»So einfach ist es nicht«, sagte Marius. »Zum ersten Mal haben sie erlebt, daß jemand sie ernst genommen hat, und jetzt sind sie ihm ergeben.« Er stützte sich auf die linke, die gelähmte Körperseite. »Die Leute hier gehören nicht zu Lucius Appuleius Saturninus. Sie gehören niemandem. Bei den Göttern, auf dem Schlachtfeld von Vercellae habe ich nicht mehr Kimbern gesehen als heute Menschen auf dem Forum Romanum! Und ich habe kein Heer. Nur eine purpurgesäumte Toga. Ein ziemlich ernüchternder Gedanke.«
»In der Tat.«
»Obwohl, ich bin mir gar nicht so sicher... Vielleicht ist meine purpurgesäumte Toga die einzig richtige Waffe. Plötzlich erscheint mir Rom in einem ganz anderen Licht, Lucius Cornelius. Diese Menschen sind heute hierhergekommen, damit wir sie sehen. Aber sie leben jeden Tag hier in Rom, gehen ihren Geschäften nach. Jederzeit könnten sie innerhalb einer Stunde wieder hier stehen. Und wir glauben, daß wir sie regieren?«
»Wir regieren sie, Gaius Marius. Sie können sich nicht selbst regieren. Sie geben sich in unsere Hand. Gaius Gracchus gab ihnen billiges Brot zu essen, und die Ädilen gaben ihnen wunderbare Spiele zu bestaunen. Jetzt kommt Saturninus daher und verspricht ihnen mitten in der Hungersnot billiges Brot. Er kann seine Versprechungen nicht halten, und sie beginnen zu ahnen, daß er es nicht kann. Deshalb wollen sie sich ihm während seiner Wahl zeigen«, sagte Sulla.
Marius hatte ein Bild dafür gefunden. »Sie sind wie ein riesiger und doch sehr gutmütiger Stier. Wenn der Stier auf dich zukommt, weil du einen Eimer in der Hand hältst, interessiert er sich nur für das Futter im Eimer. Wenn er sieht, daß der Eimer leer ist, wird er nicht wütend und spießt dich mit seinen Hörnern auf, er glaubt bloß, du hättest das Futter irgendwo am Körper versteckt. Und bei der Suche nach dem Futter trampelt er dich zu Tode, ohne es auch nur zu bemerken.«
»Saturninus hat einen leeren Eimer.«
»Genau.« Marius wandte sich von der Mauer ab. »Komm, Lucius Cornelius, wir packen den Stier bei den Hörnern.«
»Und hoffen«, grinste Sulla, »daß Saturninus nicht doch irgendwo Heu für sie versteckt hat.«
Keiner aus der ungeheuren Menschenmenge stellte sich den Senatoren und den politisch interessierten Bürgern, die wie immer ihre Stimme in den Zenturiatkomitien abgeben wollten, in den Weg. Marius stieg auf die Rednerbühne, Sulla blieb mit den anderen patrizischen Senatoren auf der Treppe stehen. Die Wahlberechtigten in der Versammlung der Plebs waren eine Insel in einem Meer von ziemlich schweigsamen Zuschauern - eine weitgehend versunkene Insel mit der Rednerbühne als Fels in der Brandung. Man hatte natürlich mit dem Pöbel gerechnet. Viele Senatoren und gewöhnliche Wähler trugen Messer und Knüppel unter ihren Togen versteckt, besonders die kleine Gruppe konservativer Senatorensöhne unter Führung des jungen Caepio hatte sich gerüstet. Aber Saturninus’ Pöbel war nicht erschienen. Die Armen hatten sich in stummem Protest versammelt. Messer und Knüppel erschienen plötzlich völlig fehl am Platze.
Einer nach dem anderen stellten sich die zwanzig Kandidaten vor, Marius beobachtete sie genau. Als erster sprach der amtierende Volkstribun Lucius Appuleius Saturninus, und die ganze riesige Menschenmenge jubelte ihm begeistert zu. Saturninus war sichtlich überrascht, wie Marius feststellte. Saturninus dachte angestrengt nach, das war deutlich von seinem Gesicht abzulesen. Was für eine Gefolgschaft für diesen einen Mann! Was wurde er alles erreichen können mit dreihunderttausend Römern, den Armen und Besitzlosen, im Rücken? Wer wurde noch den Mut aufbringen, ihn vom Amt des Volkstribunen fernzuhalten, wenn dieses Ungeheuer aus menschlichen Leibern ihn trug?
Die anderen Kandidaten, die sich nach Saturninus vorstellten, nahm die Menge mit gleichgültigem Schweigen zur Kenntnis: Publius Funus, Quintus Pompeius Rufus aus der in Picenum ansässigen Linie der Familie, Sextus Titius aus Samnium, und der rothaarige, grauäugige und sehr vornehm wirkende Marcus Porcius Cato Salonianus, der Enkel von Cato dem Zensor, dem Bauern aus Tusculum, und Urenkel eines keltischen Sklaven.