»Lucius Appuleius, gib auf!« schrie Marius aus vollem Hals. Sulla stand an seiner Seite.
Saturninus überblickte mit Saufeius, Labienus, Equitius und etwa zehn anderen oben von der rostra das Geschehen. Er starrte Marius mit offenem Mund an, dann warf er den Kopf zurück und lachte. Das Lachen sollte trotzig und selbstbewußt klingen, tatsächlich aber klang es hohl.
»Deine Befehle, Gaius Marius?« fragte Sulla.
»Wir nehmen sie im Sturm«, sagte Marius. »Ganz plötzlich, mit aller Härte. Die Schwerter bleiben stecken. Nur mit den Schilden. Ich hätte nie gedacht, daß sie so eine kunterbunte Versammlung sind, Lucius Cornelius! Wir werden leichtes Spiel mit ihnen haben.«
Sulla und Marius gingen durch die Reihen ihrer kleinen Armee und wiesen sie an. Mit ausgestreckten Schilden bildeten sie eine Phalanx, vielleicht zweihundert Männer lang und fünf Reihen tief.
Und dann: »Angreifen!« schrie Gaius Marius.
Hinter einer festen Mauer von Schilden überrannten sie den Pöbel wie eine ungeheure Welle. Männer und selbstgebastelte Waffen flogen in alle Richtungen. Bevor sich Saturninus’ Pöbel wieder aufgerappelt hatte, krachte die Mauer aus Schilden zum zweiten Mal hinein.
Saturninus und seine Gefährten sprangen von der Rednerbühne und mischten sich unter die Kämpfenden. Vergebens. Obwohl Marius’ Kohorte anfänglich nach Blut gelechzt hatte, fand sie jetzt Gefallen an der neuartigen Holzhammermethode. Im Gleichschritt fuhren sie wieder und wieder in die verstörte Menge, drängten die Männer wie Steine zu einem Haufen zusammen, zogen sich zurück, um erneut eine Mauer zu bilden, und stießen wieder vor. Ein paar Männer aus dem Pöbel wurden zertrampelt, aber es entwickelte sich keine Schlacht, es war ein einziges Debakel für den Pöbel.
Es dauerte nicht lang, bis Saturninus’ ganze Truppe die Flucht ergriff. Die Besetzung des Forum Romanum war vorüber, fast ohne Blutvergießen. Saturninus, Labienus, Saufeius, Equitius, ein Dutzend Römer und an die dreißig bewaffnete Sklaven liefen den Clivus Capitolinus hinauf und verbarrikadierten sich im Tempel des Jupiter Optimus Maximus. Sie flehten den großen Gott um Hilfe an, er solle ihnen doch die riesige Menschenmenge zurück auf das Forum schicken.
»Jetzt wird Blut fließen!« kreischte Saturninus vom Podium vor dem Tempel auf dem Kapitol hinunter, so laut, daß Marius und seine Männer ihn gut verstehen konnten. »Ich werde dafür sorgen, daß du Römer töten mußt, bevor ich abtrete, Gaius Marius! Dieser Tempel wird durch das Blut von Römern entweiht werden!«
»Er könnte recht behalten«, sagte der Senatsvorsitzende Scaurus. Trotzdem sah er sehr glücklich und zufrieden aus.
Marius lachte herzhaft. »Nein! Er stellt die Stacheln auf, wie ein kleines wehrloses Tier, Marcus Aemilius. Es gibt ein ganz einfaches Mittel gegen diese Besetzung. Wir werden sie dort rauskriegen, ohne daß auch nur ein Tropfen Blut fließt.« Er wandte sich an Sulla. »Lucius Cornelius, such die Ingenieure der städtischen Wasserversorgung, sie sollen sofort das Wasser für das gesamte Kapitol sperren!«
Der Senatsvorsitzende schüttelte verblüfft den Kopf. »So einfach ist das! Und so naheliegend - und ich wäre trotzdem nicht darauf gekommen. Wie lange werden wir wohl warten müssen, bis Saturninus aufgibt?«
»Nicht sehr lange. Ihre Arbeit muß sie ziemlich durstig gemacht haben. Ich schätze, morgen ist es soweit. Ich schicke genug Männer hinauf, damit wir den Tempel umstellen können. Und die sollen sich erbarmungslos über den Wassernotstand unserer Ausreißer lustig machen.«
»Saturninus wird aufs Ganze gehen«, sagte Scaurus.
Marius wollte dieser Einschätzung nicht zustimmen. »Er ist Politiker, kein Soldat, Marcus Aemilius. Er hat verstanden, was Macht ist, aber er weiß nicht, was Waffengewalt ist. Er kann sich keine erfolgreiche Taktik ausdenken.« Scaurus erschrak, als Marius ihm die verzerrte Hälfte seines Gesichts zuwandte. Das Augenlid hing traurig herunter, und das Lächeln, das die gesunde Seite seines Gesichts erhellte, bildete einen schrecklichen Kontrast. »Wenn ich in Saturninus’ Stiefeln stünde, Marcus Aemilius, dann hättest du Grund zur Sorge! Ich wäre längst König von Rom, und ihr wäret alle tot.«
Der Senatsvorsitzende Scaurus trat unwillkürlich einen Schritt zurück. »Das weiß ich, Gaius Marius«, sagte er, »das weiß ich!«
»Sei’s drum«, sagte Marius fröhlich und drehte die schreckliche Seite seines Gesichtes weg. »Glücklicherweise bin ich nicht König Tarquinius - auch wenn die Familie meiner Mutter aus Tarquinia stammt! Mehr als eine Nacht zusammen mit dem großen Gott wird Saturninus nicht aushalten.«
Die Aufrührer, die man auf der Flucht gefaßt hatte, wurden zusammengetrieben und unter schwerer Bewachung in die Zellen der Lautumiae gebracht. Dort sonderten Gehilfen der Zensoren rasch alle Männer aus, die keine römischen Bürger waren; sie wurden auf der Stelle hingerichtet. Die römischen Bürger sollten am nächsten Tag gemeinsam unter Anklage gestellt werden, anschließend würde man sie vom Tarpeischen Felsen am Südosthang des Kapitols in den Tod stürzen.
Sulla kehrte zurück, als Marius und Scaurus gerade das Forum verlassen wollten.
»Ich habe eine Nachricht von Lucius Valerius auf dem Quirinal erhalten«, sagte er. In Anbetracht der Ereignisse dieses Tages sah er ziemlich frisch aus. »Glaucia befindet sich in der Tat in Gaius Claudius’ Haus. Aber sie haben die Tore verriegelt und weigern sich herauszukommen.«
Marius sah Scaurus an. »Nun, Senatsvorsitzender, wie sollen wir verfahren?«
»Genau wie mit der Bande, die sich bei Jupiter Optimus Maximus verkrochen hat. Wir können doch eine Nacht verstreichen lassen. Lucius Valerius soll das Haus weiterhin bewachen. Wenn Saturninus aufgegeben hat, lassen wir die Nachricht über die Mauern von Gaius Claudius’ Haus ausrufen und warten dann ab, was passiert.«
»Ein guter Plan, Marcus Aemilius.«
Scaurus lachte. »Wie freundlich unser Umgangston geworden ist, Gaius Marius! Das wird meinem Ruf bei meinen Freunden, den boni, hoffentlich nicht schaden!« prustete er und ergriff Marius’ Arm. »Denn trotz allem bin ich sehr froh, daß wir dich guten Mann heute hier hatten! Was meinst du dazu, Publius Rutilius?«
»Ich meine, du hättest es nicht treffender ausdrücken können.«
Von den ungefähr fünfzig Männern, die sich im Tempel des Jupiter Optimus Maximus verschanzt hatten, gab Lucius Appuleius Saturninus als erster auf, Gaius Saufeius als letzter. Die fünfzehn römischen Bürger unter ihnen wurden in aller Öffentlichkeit auf der rostra in Ketten gelegt. Viele Zuschauer waren nicht gekommen, die große Menge war zu Hause geblieben. Dann wurden die Aufrührer wegen Hochverrat vor ein eigens zu diesem Zwecke einberufenes Gericht gestellt. Die Strafe lautete für alle gleich: Sie sollten vom Tarpeischen Felsen gestürzt werden.
Der Tarpeische Felsen war nur knapp drei Meter hoch, ein Überhang aus Basalt über einem steilen Abgrund, aus dem nadelspitze Gesteinsbrocken emporragten. Der Verurteilte wurde regelrecht aufgespießt.
Die Verräter wurden den Clivus Capitolinus hinaufgeführt, am Tempel des Jupiter Optimus Maximus vorbei zu einem Platz an der Servianischen Mauer vor dem Tempel der Ops. Der Überhang des Tarpeischen Felsens ragte über die Mauer und war vom unteren Forum aus gut sichtbar. Dort erschien plötzlich eine Menschenmenge, die zusehen wollte, wie die Kämpfer des Lucius Appuleius Saturninus in den Tod gingen. Menschen mit leeren Bäuchen - aber heute hatten sie keine Lust, ihren Unmut zu zeigen. Sie wollten nur sehen, wie die Männer vom Tarpeischen Felsen gestürzt wurden, denn so etwas war schon lange nicht mehr vorgekommen. Gerüchteweise hatte sich herumgesprochen, daß mehr als hundert Männer sterben sollten. Niemand in der Menge empfand Liebe oder Mitleid für Saturninus oder Equitius, obwohl jetzt genau dieselben Menschen da unten standen, die den beiden bei der Wahl der Volkstribunen so begeistert zugejubelt hatten. Man munkelte, daß eine Flotte mit Getreide an Bord aus Asien kommen solle - und daß man das Gaius Marius zu verdanken habe. So jubelten sie ein paarmal zu Gaius Marius hinüber; aber was sie wirklich interessierte an diesem römischen Festtag, war das Schauspiel, wie menschliche Körper vom Tarpeischen Felsen in den Abgrund stürzten. Tod in hinreichender Entfernung, eine akrobatische Vorstellung, ein neues Schauspiel.