Marius schritt die Treppen hinunter und bestieg die rostra, denn als erster Konsul leitete er auch die Feierlichkeiten zur Amtseinführung der neuen Volkstribunen. Wäre er aus patrizischem Geschlecht gewesen, hätte sein Mitkonsul das tun müssen. Mindestens einer der Konsuln mußte immer Plebejer sein, damit er Zugang zum concilium plebis hatte.
Und dann geschah es. Die Nachrichtenübermittlung von Mund zu Mund mußte wie immer gut funktioniert haben, mit der Geschwindigkeit des Lichts hatten sich die Ereignisse herumgesprochen. Das Forum füllte sich mit Menschen, Tausende und Abertausende strömten herbei - vom Esquilin, Caelius, Viminal, Quirinal, Palatin, Aventin, aus der Subura. Dieselbe Menschenmenge, das erkannte Gaius Marius auf den ersten Blick, die sich bei der Wahl der Volkstribunen auf dem Forum gedrängt hatte.
Jetzt, wo das Schlimmste vorüber war, kehrte Frieden in Marius’ Herz ein. Er blickte über das Meer von Menschen und sah, was Lucius Appuleius Saturninus gesehen hatte: eine Quelle der Macht, noch ungenutzt, ohne die Arglist und Tücke, die mit Erfahrung und Bildung kamen. Die Menschen glaubten bereitwillig jedem leidenschaftlichen Demagogen, sie ließen sich von jedem Redner mit Charisma überzeugen, sie folgten jedem Führer wie eine Herde. Das ist nichts für mich, dachte Gaius Marius. Erster Mann in Rom zu sein und dabei von den Launen der Masse abhängig, das ist kein Triumph. Ich war gerne der Erste Mann in Rom, im alten Stil, auf dem harten Weg: im ständigen Kampf gegen die Vorurteile und die Ungeheuerlichkeiten, die mir auf dem cursus honorum begegneten.
Doch einmal, schloß Gaius Marius seine Gedanken schadenfroh, möchte ich dem Senatsvorsitzenden Scaurus, Catulus Caesar, dem pontifex maximus Ahenobarbus und dem Rest der boni noch zeigen, was sie erwartet hätte, wenn ich Saturninus’ Weg gewählt hätte: Dann lägen nämlich sie jetzt alle in der curia hostilia unter Dachziegeln begraben. Mit einer Hand würde ich Rom regieren! Ich bin im Vergleich zu Saturninus so wie Jupiter im Vergleich zu Cupido.
Er trat an den Rand der Rednerbühne, näher zum unteren Forum als zum Versammlungsplatz der Komitien. Mit ausgebreiteten Armen schien er die Menge umarmen zu wollen wie ein Vater seine Kinder. »Volk von Rom, geht zurück in eure Häuser!« donnerte er. »Die Krise ist vorüber. Rom ist gerettet. Und ich, Gaius Marius, kann euch mit großer Freude ankündigen, daß gestern eine Flotte von Getreideschiffen im Hafen von Ostia eingelaufen ist. Die Lastkähne kommen heute flußaufwärts, ab morgen wird es Korn aus den staatlichen Speichern auf dem Aventin geben, zum Preis von einem Sesterz pro Scheffel, zu dem Preis, den Lucius Appuleius Saturninus’ Getreidegesetz festgelegt hat. Nun, Lucius Appuleius ist tot, sein Gesetz ist ungültig. Ich, Gaius Marius, der Konsul von Rom, gebe euch das Korn! Der billige Preis wird so lange gelten, wie ich noch im Amt bin, das heißt noch neunzehn Tage. Danach müssen die neuen Magistrate entscheiden, wieviel ihr zu bezahlen habt. Der Preis von einem Sesterz ist mein Abschiedsgeschenk an euch, Volk von Rom! Ich liebe euch, ich habe für euch gekämpft, und ich habe für euch gesiegt! Vergeßt das niemals, niemals! Lang lebe - Rom!«
In einer Woge des Jubels stieg er mit erhobenen Armen von der Rednerbühne. Das wilde, verzerrte Grinsen auf seinem Gesicht paßte zum Abschiednehmen mit seiner guten und seiner schlechten Seite.
Catulus Caesar stand da wie angewurzelt. »Hast du das gehört, Scaurus?« stieß er hervor. »Er hat gerade neunzehn Tagesrationen Korn verschenkt - in seinem Namen! Das kostet die Staatskasse Tausende von Talenten! Wie kann er es wagen!«
»Willst du dich vielleicht auf die rostra stellen und ihm widersprechen, Quintus Lutatius?« grinste Sulla. »Wo doch deine jungen Getreuen dort drüben ihre Freiheit behalten haben?«
»Verflucht sei er!« Catulus Caesar war den Tränen nahe.
Scaurus brach in schallendes Gelächter aus. »Er hat es uns wieder gegeben, Quintus Lutatius!« sagte er, sobald er wieder sprechen konnte. »Ein Mann wie ein Erdbeben. Er hat es uns gezeigt, und wir müssen die Rechnung bezahlen. Ich verabscheue ihn - aber, bei allen Göttern, ich liebe ihn auch!« Und er schüttelte sich wieder vor Lachen.
»Es gibt Zeiten, Marcus Aemilius Scaurus, da verstehe ich nicht im mindesten, was für ein Mensch du bist!« Catulus Caesar stolzierte in seinem besten Kamelgang davon.
»Wohingegen ich, Marcus Aemilius Scaurus, euch alle nur zu gut verstehe«, sagte Sulla, der noch heftiger als Scaurus lachen mußte.
Glaucia stürzte sich in sein Schwert, Marius weitete die Amnestie auf Gaius Claudius und seine Anhänger aus, und Rom atmete auf. Der Kampf auf dem Forum schien endgültig vorüber. Aber dem war nicht so. Die beiden Söhne von Lucullus klagten Gaius Servilius Augur des Hochverrats an, und erneut kam es zu Gewalttätigkeiten. Unter den Senatoren ging es hoch her, denn der Fall spaltete die Konservativen. Catulus Caesar, der Senatsvorsitzende Scaurus und ihre Anhänger standen unverrückbar auf der Seite der Brüder Lucullus, der pontifex maximus Ahenobarbus und Crassus Orator waren durch Freundschaftsbande und Protektion mit Servilius Augur verbunden.
Die Menschen, die während der Ereignisse um Saturninus so unerwartet auf dem Forum aufgetaucht waren, blieben verschwunden, aber die üblichen Besucher des Forums erschienen wieder so zahlreich wie früher und beobachteten den Prozeß. Die Jugend und die Leidenschaft der beiden Lucullus-Brüder zogen sie an. Das wußten die beiden, und sie waren fest entschlossen, die Sympathie der Zuschauer auf jede mögliche Weise für sich auszunutzen. Varro Lucullus, der jüngere Bruder, hatte erst wenige Tage vor dem Prozeß die Toga des Mannesalters angelegt. Weder er noch Lucius Lucullus, der achtzehn Jahre alt war, mußten sich schon rasieren. Ihre Agenten, die sie klug in der Menge verteilt hatten, wisperten überall herum, die beiden armen Knaben hätten soeben die Nachricht erhalten, daß ihr Vater im Exil gestorben sei - und nun liege es ganz allein an ihnen, diesen beiden bemitleidenswerten Knaben, die Ehre, die dignitas, die edle Abkunft der Familie der Licinus Lucullus zu verteidigen.
Die Geschworenen, alle aus dem Ritterstand, hatten schon im voraus beschlossen, sich auf die Seite von Servilius Augur zu stellen, denn er war ein Ritter wie sie, dank der Unterstützung seines Gönners Ahenobarbus saß er im Senat. Schon bei der Wahl der Richter war es zu Gewalttätigkeiten gekommen, denn Servilius Augur hatte ehemalige Gladiatoren angeheuert, die den Prozeß verhindern sollten. Aber die schnelle, kleine Truppe junger Adliger unter der Führung von Caepio und Metellus, dem braven Ferkel, trieb die Muskelmänner vom Platz, einer wurde dabei getötet. Die Richter verstanden die Botschaft und entdeckten ihr Mitgefühl für die Brüder Lucullus.
»Sie werden Servilius verurteilen«, sagte Marius, der mit Sulla dabeistand und die Geschehnisse genau beobachtete.
»Das werden sie, in der Tat«, sagte Sulla, der von dem älteren der beiden Brüder, Lucius Lucullus, fasziniert war. »Großartig!« rief er aus, als der junge Lucullus seine Rede beendet hatte. »Er gefällt mir, Gaius Marius!«
Aber Marius war unbeeindruckt. »Er ist genauso hochnäsig und überheblich wie sein Vater.«
»Es ist bekannt, daß du Servilius Augur unterstützt«, sagte Sulla steif.
Dieser Pfeil hatte getroffen, aber Marius grinste nur. »Ich würde einen tingitanischen Affen unterstützen, wenn er den Gefolgsleuten unseres abwesenden Metellus Schweinebacke das Leben schwermachte, Lucius Cornelius.«