Hätte er irgendeinen entfernten Verwandten angebettelt - denn nähere Verwandte hatte er nicht mehr -, so wäre sein Schicksal vielleicht durch ein großzügiges Darlehen gemildert worden. Doch sein Stolz, der ihm immerhin gestattete, sich von ordinären Frauen aushalten zu lassen, hinderte ihn daran, zum Bittsteller zu werden. Lieber wollte er ein Niemand bleiben, der niemandem etwas schuldete, als durch ein großes Darlehen in ein Klientelverhältnis geraten. Er, ein patrizischer Cornelius!
Ohne ein bestimmtes Ziel stürmte er aus dem Haus seiner Stiefmutter. Nur in der feuchten Luft durchatmen und den ganzen Arger hinter sich lassen! Clitumna hatte sich einen für ihre Verhältnisse ungewöhnlichen Wohnort ausgesucht. In ihrer Straße wohnten erfolgreiche Advokaten, Hinterbänkler aus dem Senat und Ritter mit mittleren Einkommen. Die Straße verlief zwar weit unten am Hang des Palatin und bot deshalb keine schöne Aussicht, aber sie lag angenehm nah am politischen und wirtschaftlichen Zentrum der Stadt, dem Forum Romanum, und den Markthallen und Plätzen in seiner Umgebung. Natürlich schätzte Clitumna auch die Sicherheit dieses Viertels, das weit von der Subura mit ihren engen Gassen und finsteren Gestalten entfernt war, wenngleich Clitumnas lärmenden Feste und zweifelhafte Freunde schon zu manch wütendem Streit mit den Nachbarn geführt hatten. Neben ihr wohnte der steinreiche Bankier und Kaufmann Titus Pomponius, auf der anderen Seite der Senator Gaius Julius Caesar.
Clitumna sah ihre Nachbarn selten. Das war einer der Vorteile oder auch Nachteile, wenn man so wollte - der nach innen ausgerichteten Häuser mit ihren fensterlosen Außenwänden, den großen Innenhöfen und den Gärten mit Säulengängen. Wenn sich Clitumnas Gäste allerdings aus dem Eßzimmer hinaus in den Säulengarten ergossen, drang der Lärm weit über die Grenzen ihres Anwesens hinaus und erboste sämtliche Nachbarn.
Inzwischen war es hell geworden. Vor sich erkannte Sulla die Frauen aus dem Haus des Gaius Julius Caesar, die auf den hohen Korksohlen und noch höheren Korkabsätzen ihrer Winterschuhe vorsichtig über die schmutzige Straße stakten. Wahrscheinlich wollten sie sich die Feierlichkeiten ansehen. Er verlangsamte seinen Schritt und maß die dickvermummten Gestalten mit dem schamlosen Blick eines Mannes, der von seinen Trieben beherrscht wird. Caesars Frau war eine Marcia, Tochter des Erbauers der Aqua Marcia und kaum älter als vierzig. Höchstens fünfundvierzig. Eine schlanke, gepflegte Erscheinung, hochgewachsen, brünett und überdurchschnittlich hübsch. Mit ihren beiden Töchtern konnte sie freilich nicht konkurrieren. Das waren echte Julias, zwei blonde Schönheiten, wobei nach Sullas Geschmack der jüngeren die Krone gebührte. Er hatte sie einige Male beobachtet, wenn sie auf dem Markt einkaufen gingen, und er wußte, daß ihre Börsen ebenso schmal waren wie ihre Taillen. Die Familie konnte sich nur mit knapper Not im Senat halten.
Geld regierte die Welt. Ohne Geld war man ein Nichts. Kein Wunder, daß niemand eine Gelegenheit ausließ, sich zu bereichern. Wer sich durch die Politik bereichern wollte, mußte zunächst dafür sorgen, daß er zum Prätor gewählt wurde. Sobald er gewählt war, zahlten die jahrelangen Investitionen sich aus. Denn als Prätor regierte er eine Provinz, und dort konnte er leben wie ein Gott und sich großzügig bedienen. Wer die Gelegenheit hatte, führte einen kleinen Grenzkrieg gegen einen Barbarenstamm, plünderte dessen Gold und Heiligtümer, verkaufte die Gefangenen auf dem Sklavenmarkt und strich den Gewinn ein. Aber auch ohne Krieg gab es Wege, zu Geld zu kommen. Ein Prätor konnte mit Getreide und anderen wichtigen Gütern handeln, er konnte zu schwindelerregenden Zinssätzen Geld verleihen und es, wenn nötig, mit Hilfe der Armee eintreiben, und er konnte bei der Steuererhebung die Bücher frisieren, römische Bürgerrechte teuer verkaufen oder ungesetzliche Gebühren erheben.
Alles hing am Geld. Doch wie sollte Sulla zu Geld kommen? Wie konnte er genug auftreiben, um Senator zu werden? Träume, Lucius Cornelius Sulla! Träume!
Die Frauen bogen nach rechts in den Clivus Victoriae ein, und Sulla wußte jetzt, wohin sie gingen: zur area Flacciana, auf der einst das Haus des Flaccus gestanden hatte. Als er an dem stellen, von winterlich grauem Gras bedeckten Abhang stehenblieb, ließen sich die Frauen gerade auf Klappstühlen nieder, während ein kräftiger Bursche, der aussah wie ein Thraker, damit beschäftigt war, eine Zeltplane aufzuspannen, um seine Herrin vor dem stärker werdenden Regen zu schützen. Sulla beobachtete, wie die beiden Julias sich brav neben ihre Mutter setzten, dann aber, als diese ein Gespräch mit der schwangeren Frau des Titus Pomponius begann, ihre Stühle nahmen und die Wiese hinunter zu den vier Mädchen aus der Sippe des Claudius Pulcher rannten. Auch deren Mütter saßen in der Nähe. Wie hießen sie doch gleich? Ach ja, Licinia und Domitia. Sulla kannte sie recht gut, er hatte mit beiden schon geschlafen. Ohne nach rechts oder links zu blicken, stieg er den Abhang hinunter zu den beiden Frauen.
»Meine Damen«, sagte er mit einer Verbeugung, »was für ein scheußlicher Tag.«
Alle Frauen der Gegend kannten ihn, und das war in gewisser Weise besonders schlimm. Während seine Freundinnen aus der Gosse ihn stets als einen der ihren betrachteten, begingen die adligen Römerinnen diesen Fehler nicht. Sie wußten alle ganz genau, daß er von edler Herkunft war, und sie kannten seinen Stammbaum und seine Vergangenheit. Die einen empfanden Mitleid mit ihm, andere, wie Licinia und Domitia, vergnügten sich mit ihm im Bett, aber helfen wollte ihm keine.
Der Wind blies aus Nordost und trug den säuerlichen Dunst kalter Asche heran, den Geruch feuchter Holzkohle, verbrannten Kalks und Tausender vergrabener, verwester Leichen. Im vergangenen Sommer waren der gesamte Viminal und der obere Teil des Esquilin in Flammen aufgegangen. Es war das schrecklichste Feuer seit Menschengedenken gewesen: Ungefähr ein Fünftel der Stadt war niedergebrannt, bevor es gelungen war, mit vereinten Kräften eine so breite Bresche zwischen die Häuser zu schlagen, daß das Flammenmeer vor den überfüllten Mietshäusern der Subura und dem unteren Teil des Esquilin zum Stehen gebracht werden konnte. Glücklicherweise hatten der Wind und der breite Vicus Longus verhindert, daß das Feuer sich auf den dünner besiedelten Quirinal ausbreitete, den nördlichsten Hügel innerhalb der Stadtmauern.
Obwohl inzwischen ein halbes Jahr vergangen war, war die schreckliche Narbe, die der Brand hinterlassen hatte, noch deutlich zu erkennen. Eine ganze Quadratmeile verbrannter Erde, halb eingestürzter Gebäude, Öde. Wieviele Menschen ums Leben gekommen waren, wußte niemand. Mehr als genug jedenfalls, denn danach hatte es keinen Mangel an Wohnungen gegeben, obwohl der Wiederaufbau nur langsam voranging. Hier und da ragten hölzerne Gerüste hundert Fuß oder noch höher auf, Zeichen für einen neuen Typ mehrstöckiger Mietshäuser, die die Taschen so mancher Vermieter füllen würden.