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Alle verstummten, als sie über diese nicht von der Hand zu weisende Möglichkeit nachdachten. »Ist dir in der letzten Zeit irgendetwas zu Ohren gekommen, dass Nachschub nach Norden unterwegs ist?«, fragte Richard.

»Aber ja«, sagte Victor. »Es wird ständig darüber geredet, dass gewaltige Mengen von Gütern nach Norden unterwegs sind. Einige Konvois werden von frischen Truppen begleitet, die in den Krieg geschickt werden. Klingt ganz vernünftig, was Ihr über diese Truppen gesagt habt: dass sie für diese Konvois das Gelände erkundet haben könnten.«

Richard ging in die Hocke und zeigte mit dem Finger. »Siehst du diese Fußspuren? Sie sind etwas frischer als der Kampf. Es handelte sich um ein großes Truppenkontingent – höchstwahrscheinlich weitere Soldaten, die hergekommen sind, um nach den Toten zu suchen. Sie sind genau bis zu dieser Stelle hier gekommen. An den Seitenrändern der Fußstapfen lässt sich ablesen, wo sie kehrtgemacht haben hier. Allem Anschein nach haben sie die Lichtung betreten, haben die toten Soldaten gesehen und sind wieder abgezogen. An den Spuren ihres Abmarsches kannst du sehen, dass sie in Eile gewesen sind.«

Richard richtete sich auf und legte seine linke Hand auf den Knauf seines Schwertes. »Hättet ihr mich nicht unmittelbar nach der Schlacht abtransportiert, wären diese Soldaten mit uns zusammengestoßen. Zum Glück sind sie umgekehrt, statt den Wald zu durchsuchen.«

»Warum, meint Ihr, könnten sie das getan haben?«, fragte Victor. »Warum sollten sie sofort wieder kehrtmachen, nachdem sie ihre erst kurz zuvor getöteten Kameraden entdeckt hatten?«

»Wahrscheinlich, weil sie befürchteten, eine größere Streitmacht liege in einem Hinterhalt, also sind sie sofort zurückgeeilt, um Alarm zu schlagen und sicherzustellen, dass die Nachschubkolonne gut abgesichert ist. Und da sie sich nicht einmal die Zeit genommen haben, ihre Kameraden wenigstens flüchtig zu verscharren, würde ich vermuten, dass es ihre dringendste Sorge war, ihren Konvoi aus dieser Gegend herauszubringen.«

Die Stirn nachdenklich in Falten gelegt, betrachtete Victor erst die Fußspuren, ehe er noch einmal in die Richtung blickte, wo die toten Soldaten lagen. »Na schön«, sagte er und fuhr sich mit der Hand über den Kopf, »zumindest können wir uns die Situation zunutze machen. Solange Jagang mit dem Krieg beschäftigt ist, haben wir hier unten Zeit, nach Kräften daran zu arbeiten, der Vorherrschaft der Imperialen Ordnung die Unterstützung abzugraben.«

Richard schüttelte den Kopf. »Jagang mag mit dem Krieg beschäftigt sein, das dürfte ihn allerdings kaum davon abhalten, alles daranzusetzen, seine Vormachtstellung hier unten wiederzuerlangen. Wenn wir eins über den Traumwandler gelernt haben, dann ist es das Faktum, dass er sehr methodisch bei der Eliminierung jeglichen Widerstands vorgeht.«

»Richard hat Recht«, warf Nicci ein. »Es wäre ein gefährlicher Irrtum, Jagang als bloßen Rohling abzutun. Auch wenn seine Brutalität unbestritten ist, so ist er doch auch ein hochintelligenter Mann und brillanter Taktiker. Er hat mit den Jahren eine Menge Erfahrungen gesammelt, sodass es nahezu unmöglich ist, ihn zu unüberlegtem Handeln zu verleiten. Er ist durchaus zu kühnem Vorgehen fähig – solange er guten Grund zu der Annahme hat, dass ihm das den Sieg eintragen wird, grundsätzlich aber neigt er eher dazu, seine Feldzüge bis ins Kleinste zu planen. Er handelt aufgrund fester Überzeugungen, nicht aus verletztem Stolz. Er ist bereit, einen im Glauben zu lassen, man habe bereits gesiegt – oder was auch immer –, während er schon ganz methodisch plant, wie er einen im Innersten vernichtet. Geduld ist fast seine tödlichste Eigenschaft. Wenn er angreift, scheren ihn die Verluste seiner Armee wenig, solange er nur sicher sein kann, noch genügend Männer zu haben, um am Ende den Sieg davonzutragen. Dennoch hat sich im Laufe der Zeit herausgestellt jedenfalls bis zu seinem Eroberungsfeldzug gegen die Neue Welt –, dass er eher weniger Verluste hinnehmen muss als seine Feinde, was auch daran liegen mag, dass er nichts von den naiven Vorstellungen der klassischen Feldschlacht hält, von Truppen, die auf dem Feld der Ehre aufeinander prallen. Für gewöhnlich ist es seine Methode, in so überwältigender Überzahl anzugreifen, dass er die Gebeine seiner Gegner zu Staub zermalmt. Was seine Horden mit den Besiegten machen, ist Legende. Wer ihnen im Weg steht, für den wird das Warten zur unerträglichen Qual. Niemand, der noch halbwegs bei Verstand ist, würde lebend zurückbleiben wollen, um Jagangs Männern in die Hände zu fallen. Aus diesem Grund heißen ihn viele mit offenen Armen willkommen, lobpreisen ihn für ihre Befreiung und flehen ihn geradezu an, konvertieren und in den Orden der Imperialen Ordnung eintreten zu dürfen.«

Unter dem schützenden Laubdach der Bäume war das leise Plätschern des sanften Regens das einzige Geräusch. Victor hatte nicht den geringsten Zweifel an Niccis Schilderung, schließlich hatte sie diese Dinge am eigenen Leibe miterlebt.

»Es ist nur eine Frage der Zeit, bis Jagang den entscheidenden Schachzug zur Rückeroberung Altur’Rangs macht«, brach Richard die Stille.

Victor nickte. »Genau. Falls Jagang gedacht haben sollte, dass sich die Revolution auf Altur’Rang beschränkt, wird er alles in seinen Kräften Stehende tun, um die Stadt zurückzuerobern, und dabei genauso skrupellos vorgehen, wie Nicci es geschildert hat. Wir werden allerdings dafür sorgen, dass es erst gar nicht so weit kommt.« Er zeigte Richard ein entschlossenes Lächeln. »Wir werden das Eisen schmieden, solange es heiß ist, und die Flammen der Rebellion und Freiheit in das ganze Land hinaustragen, sodass Jagang sie nicht eindämmen und austreten kann.«

»Mach dir nichts vor«, widersprach Richard. »Altur’Rang ist seine Heimatstadt, dort hat der Aufstand gegen die Imperiale Ordnung seinen Anfang genommen. Ein Volksaufstand in ebenjener Stadt, wo Jagang seinen prächtigen Palast errichten ließ, unterminiert alles, was die Imperiale Ordnung predigt. Von dieser Stadt, von diesem Palast aus wollten Jagang und die Hohepriester der Glaubensgemeinschaft der Ordnung für alle Zeiten im Namen des Schöpfers über die Menschen herrschen. Stattdessen haben die Menschen den Palast in Schutt und Asche gelegt und sich für die Freiheit entschieden. Jagang wird niemals zulassen, dass seine Machtposition auf Dauer untergraben wird. Wenn der Orden überleben und die Alte sowie auch die Neue Welt beherrschen will, muss er die Rebellion dort niederwerfen. Für ihn wird das eine prinzipielle Glaubensfrage sein, er betrachtet jeden Widerstand gegen die Methoden der Imperialen Ordnung als Blasphemie, die sich gegen den Schöpfer höchstselbst richtet. Also wird er nicht davor zurückschrecken, seine barbarischsten und erfahrensten Soldaten mit dieser Aufgabe zu betrauen. Er wird ein verdammtes blutiges Exempel an euch statuieren wollen. Ich würde davon ausgehen, dass der Angriff eher früher als später erfolgt.«

Victor schien beunruhigt, wenn auch nicht völlig überrascht.

»Und vergiss eines nicht«, fügte Nicci hinzu, »zu denen, die bei der Wiederherstellung der Macht des Ordens helfen, werden die Ordensbrüder dieser Glaubensgemeinschaft gehören, die entkommen konnten. Bei diesen mit der Gabe gesegneten Männern handelt es sich nicht um gewöhnliche Gegner. Bislang haben wir kaum damit begonnen, sie auszumerzen.«

»Alles gut und schön, aber man kann das Eisen nicht nach seinem Willen formen, bevor man es nicht ordentlich erhitzt hat.« Trotzig zeigte ihnen Victor die geballten Fäuste. »Wenigstens haben wir damit angefangen zu tun, was getan werden muss.«

Zumindest insoweit war Nicci bereit, ihm nickend und mit einem verhaltenen Lächeln Recht zu geben und so das düstere Bild, das zu entwerfen sie mitgeholfen hatte, wieder ein wenig aufzuhellen. Sie war sich natürlich im Klaren, dass Victor Recht hatte, nur wollte sie verhindern, dass er aus dem Blick verlor, welche konkreten Schwierigkeiten sie erwarteten.

Nicci wäre erleichtert gewesen, wenn Richards Äußerungen zu den wichtigen Dingen, die anstanden, ein wenig mehr Sachlichkeit hätten durchblicken lassen, andererseits war sie nicht so naiv. Hatte J Richard sich einmal auf etwas versteift, das ihm wichtig schien, konnte er sich, falls nötig, durchaus noch nebensächlichen Dingen widmen, aber es wäre ein schwerer Fehler zu glauben, dass er dadurch sein Ziel auch nur im Mindesten aus den Augen verlöre. Tatsächlich hatte er Victor eine in knappen Worten zusammengefasste Warnung gegeben – etwas, das es einfach aus dem Weg zu räumen galt. Seinen Augen aber sah sie an, dass ihn ganz andere und für ihn viel wichtigere Dinge beschäftigten.