Victor stieß einen sehr leisen, sehr besorgt klingenden Seufzer aus. Falls Cara schockiert war, so wusste sie dies ausgezeichnet für sich zu behalten. Nicci wusste, dass er mit seinen Ausführungen noch längst nicht am Ende angelangt war, daher formulierte sie ihre Frage erst einmal vorsichtig. »Du willst uns also zeigen, dass von dieser Frau keine Fußspuren existieren?«
»So ist es. Ich habe mich genau umgesehen und an verschiedenen Stellen sowohl meine Fußspuren als auch die Caras gefunden, aber dort, wo Kahlans Spuren sein müssten, ist nichts zu sehen.«
Niemand mochte das beklommene Schweigen brechen, bis Nicci dies schließlich auf sich nahm. »Richard, der Grund dafür muss dir doch klar sein. Begreifst du nicht? Es ist nur dieser Traum, den du hattest. Es sind keine Spuren zu sehen, weil diese Frau nicht existiert.«
Wie er jetzt vor ihr kniete, den Blick zu ihr erhoben, hatte sie das Gefühl, ihm durch seine grauen Augen bis auf den Grund seiner entblößten Seele blicken zu können. In diesem Moment hätte sie fast alles dafür gegeben, ihm einfach nur Trost spenden zu können. Aber das durfte sie nicht, sie musste sich zwingen fortzufahren. »Du bist, nach deinen eigenen Worten, ein erfahrener Spurenleser, und doch ist es dir nicht möglich, von dieser Frau hinterlassene Fußspuren zu finden. Damit sollte die Angelegenheit eigentlich geklärt sein, das sollte dich endlich davon überzeugen, dass sie schlicht nicht existiert – niemals existiert hat.« Sie zog eine Hand unter ihrem Umhang hervor, aus ihrem wärmenden Versteck, und legte sie ihm auf die Schulter, bemüht, ihre Worte abzumildern. »Du musst dir das aus dem Kopf schlagen, Richard.«
Er wich ihrem Blick aus und biss sich nachdenklich auf die Unterlippe. »Ganz so einfach, wie du es zeichnest, stellt sich das Bild nicht dar«, erwiderte er ruhig. »Ich möchte euch alle bitten, genau hinzusehen – einfach nur hinzusehen – und zu versuchen, die Bedeutung dessen zu begreifen, was ich euch zeige. Betrachtet den großen Abstand zwischen Caras und meinen Fußspuren. Seht ihr denn nicht, dass noch eine dritte Person zwischen uns gelaufen sein muss? Ich glaube, dass Kahlans Spuren mit Magie ausgelöscht wurden.«
»Magie?«, fragte Cara übellaunig und plötzlich auf der Hut.
»Ja. Ich glaube, wer immer Kahlan entführt hat, hat ihre Spuren mittels Magie ausgelöscht.«
Nicci war sprachlos und machte keinerlei Anstalten, dies zu verbergen. Victors Blick wanderte zwischen Nicci und Richard hin und her. »Ist so etwas überhaupt möglich?«
»Durchaus«, beharrte Richard. »Als ich Kahlan das erste Mal begegnete, machte Darken Rahl Jagd auf uns, er war uns bereits dicht auf den Fersen. Zedd, Kahlan und ich mussten überstürzt fliehen. Hätte Darken Rahl uns gefasst, wären wir erledigt gewesen. Zedd ist zwar ein Zauberer, trotzdem bei weitem nicht so mächtig, wie Darken Rahl es damals war, also streute er etwas magischen Staub hinter uns auf den Pfad, um unsere Spuren zu verbergen. Dasselbe muss auch hier geschehen sein. Wer immer Kahlan entführt hat, hat ihre Spuren mithilfe von Magie unsichtbar gemacht.«
Victor und Cara sahen Bestätigung heischend zu Nicci. Victor war als Schmied ebenso wenig mit Magie vertraut wie die Mord-Sith, die Magie zutiefst verabscheute und es bewusst vermied, sich mit den Einzelheiten ihrer Funktionsweise vertraut zu machen.
Nicci zögerte. Gewiss, sie war eine Hexenmeisterin, aber das bedeutete nicht, dass sie alles wusste, was es über Magie zu wissen gab. Trotzdem ...
»Ich nehme an, theoretisch ist es wohl möglich, Magie auf diese Weise zu benutzen, allerdings habe ich noch nie gehört, dass jemand es versucht hätte.« Sie zwang sich, Richards erwartungsvollen Blick zu erwidern. »Ich denke, es gibt eine viel einfachere Erklärung für das Fehlen dieser Spuren, und ich denke, das weißt du, Richard.«
Richard vermochte seine Enttäuschung nicht zu verhehlen. »Wenn man es für sich betrachtet und mit dem Wesen von Spuren und was sie offenbaren, nicht vertraut ist, dann fällt es zugegebenermaßen schwer zu verstehen, was ich meine. Aber das ist noch nicht alles. Ich möchte euch noch etwas zeigen, das euch möglicherweise hilft, das Bild in seiner Gesamtheit zu erkennen. Kommt mit.«
»Lord Rahl.« Cara stopfte eine nasse Strähne ihres Haars zurück unter die Kapuze ihres dunklen Umhangs und vermied es, ihm ins Gesicht zu sehen. »Sollten wir uns jetzt nicht endlich wichtigeren Dingen widmen?«
»Es gibt etwas Wichtiges, das ich euch dreien zeigen muss. Oder soll das etwa heißen, dass Ihr hier warten wollt, während ich es Victor und Nicci zeige?«
Sie sah aus ihren blauen Augen zu ihm hoch. »Natürlich nicht.«
»Ausgezeichnet. Gehen wir.«
Ohne ein weiteres Wort des Protests folgten sie ihm mit forschen Schritten, als er in nördlicher Richtung losmarschierte, tiefer in den Wald hinein. Auf Zehenspitzen von Fels zu Fels springend, durchquerten sie eine breite, von dunklen Rinnsalen trüben Wassers durchzogene Senke. Einmal wäre Nicci beinahe abgerutscht und gestürzt, doch Richard bekam ihre Hand zu fassen und half ihr hinüber. Wenigstens fühlte sich seine große Hand nur warm und nicht fiebrig an. Sie wünschte, er würde das Tempo etwas drosseln und seine noch immer angeschlagene Gesundheit nicht überstrapazieren.
Der sachte Anstieg auf der anderen Seite gab sich erst nach und nach zu erkennen, als sie durch Nieselregen und niedrig hängende Wolkenfetzen immer höher gelangten. Links von ihnen erhob sich der dunkle Schatten einer steilen Felswand. Nicci konnte das Rauschen eines Sturzbachs hören, dessen Wasser die Wand herabstürzten. Als sie tiefer in die grauen Nebelschwaden und die dichte grüne Vegetation vordrangen, schwangen sich riesige Vögel von ihren hohen Sitzen auf; mit weit gespreizten Schwingen glitten die wachsamen Geschöpfe lautlos außer Sicht. Grelle Schreie unsichtbarer Tiere hallten durch den düsteren Wald. Wegen der Unmenge einander überlappender Fichten- und Tannenzweige und des Gewirrs aus Ästen abgestorbener und mit zarten Moosen behangener Eichen, ganz zu schweigen von dem trüben Nieselregen, den Schlingpflanzen und dem dichten Unterholz aus jungen Bäumen, die sich zum unwirklichen Licht emporzuranken versuchten, war es nicht eben leicht, weit zu sehen. Lediglich näher über dem Waldboden, wohin nur selten ein Sonnenstrahl fiel, war der Bewuchs spärlicher.
Tiefer im regengetränkten Wald ragten dunkle Baumstämme aus dem Unterholz und dichten Laub hervor, Wachposten gleich, die die vier Personen auf ihrem Weg vorbei an der wie zum Appell angetretenen Armee beobachteten. Schließlich führte Richard sie in ein Gelände, wo das Vorankommen leichter war, denn es war offener und der Boden mit einer weichen, ausgedehnten Schicht aus Föhrennadeln bedeckt. Nicci vermutete, dass hier selbst an sonnigen Tagen nur zarte Streifen des Sonnenlichts bis auf den Waldboden vordrangen. Zu beiden Seiten erblickte sie da und dort nahezu undurchdringliches Unterholz und dicht miteinander verwobene Reihen junger Koniferen. Die freie Fläche unter den hoch aufragenden Föhren bildete einen natürlichen, wenn auch unmarkierten Pfad. Zu guter Letzt blieb Richard stehen und breitete die Arme zu den Seiten aus, um zu verhindern, dass sie an ihm vorbeigingen. Vor ihnen breitete sich die gleiche Landschaft aus wie zuvor: spärliches Grün, das aus der dichten Schicht brauner Nadeln hervorwucherte. Sie leisteten seiner Aufforderung Folge und gingen neben ihm in die Hocke.
Richard deutete über seine rechte Schulter. »Dort hinten liegt die Stelle, wo Cara, Kahlan und ich an dem Abend, als wir unser Lager aufschlugen, den Wald betraten – ganz in der Nähe der Stelle, wo es zum Kampf kam. An mehreren Punkten rings um das Lager kann man noch Spuren meiner zweiten Wache sowie von Caras dritter Wache erkennen. Kahlan hatte in jener Nacht die erste Wache übernommen, aber davon existieren keine Spuren.«
Sein Blick, mit dem er einen nach dem anderen ansah, war eine stumme Bitte, ihn erst ausreden zu lassen, ehe sie zu widersprechen begannen.