»Dort drüben«, fuhr er fort und zeigte, »war die Stelle, wo die Soldaten durch den Wald heraufgestiegen kamen. Aus dieser Richtung dort drüben, Victor, bist du mit deinen Männern gekommen, um dich in die Schlacht zu stürzen. Fast an derselben Stelle befinden sich deine Spuren vom Transport meiner Wenigkeit zu der Bauernkate. Dort hinten, ich habe es euch bereits gezeigt, sind die Spuren von den anderen Soldaten zu sehen, die erst später eintrafen und ihre Kameraden tot vorfanden. Zu keinem Zeitpunkt war, weder von uns noch von den Soldaten, jemand hier oben. Hier, an der Stelle, an der wir uns jetzt befinden, sind keinerlei Spuren zu sehen. Überzeugt euch selbst, ihr werdet nur meine frischen Spuren von heute Morgen finden, als ich mich hier umgesehen habe. Davon abgesehen gibt es keine Fußspuren von irgendjemandem, der diese Stelle passiert hätte – tatsächlich deutet nichts darauf hin, dass überhaupt schon einmal jemand hier gewesen ist. Es hat zumindest den Anschein, als hätte noch nie jemand seinen Fuß auf dieses Fleckchen Wald gesetzt.«
Gelangweilt rieb Victor mit dem Daumen über den Stahlschaft der Keule, die an seinem Gürtel hing. »Aber offenbar teilt Ihr diese Ansicht nicht?«
»So ist es. Obwohl nirgendwo Spuren zu sehen sind, hat jemand diese Stelle passiert. Und dieser Jemand hat Spuren hinterlassen.« Richard beugte sich vor und berührte mit dem Finger einen glatten Stein von der ungefähren Größe eines halben Brotlaibs. »Er ist nämlich, als er hier vorüberhastete, über diesen Stein gestolpert.«
Die Geschichte schien Victor in ihren Bann gezogen zu haben. »Woran könnt Ihr das erkennen?«
»Sieh dir die Markierungen auf dem Stein genau an.« Als Victor sich daraufhin vorbeugte, zeigte Richard es ihm. »Siehst du, hier, wo die Oberseite des Steins Wind und Wetter ausgesetzt war, weist sie die blassen, bräunlich-gelben Flecken von Flechten und Ähnlichem auf. Hier dagegen kann man – ganz ähnlich einem Bootsrumpf unterhalb der Wasserlinie – die dunkelbraune, feuchte Erde erkennen, die anzeigt, bis wohin die Unterseite des Steins in der Erde gelegen hat. Nur liegt er jetzt eben nicht mehr so da, er hat sich ein wenig aus der Vertiefung gelöst und wurde halb auf die Seite gedreht. Siehst du, ein Teil der dunklen Unterseite liegt jetzt frei. Hätte er sich bereits vor längerer Zeit aus dem Boden gelöst, wäre die dunkle Verfärbung weggetrocknet, und die Flechten hätten auch hier bereits zu wachsen begonnen. Aber offenbar war dafür noch nicht genug Zeit. Folglich ist der Stein erst vor kurzem bewegt worden.«
Richard bewegte seinen Finger hin und her. »Betrachte den Waldboden hier, auf dieser Seite des Steins. Man kann die Vertiefung erkennen, wo der Stein ursprünglich lag, aber jetzt ist der Stein ein wenig nach hinten gestoßen worden, wodurch ein Zwischenraum zwischen dem Stein und dem Rand der Vertiefung entstanden ist. Da der Stein erst kürzlich bewegt wurde, kann man auf der hinteren, uns ab gewandten Seite noch einen Erdrand sowie einen Laubrest und kleine Zweige erkennen, die nach oben gedrückt worden sind. Die freigelegte Mulde auf dieser Seite sowie der Rand gegenüber belegen, dass, wer immer über diesen Stein gestolpert ist, sich von unserem Lager in nördlicher Richtung entfernt hat.«
»Aber wo sind dann seine Spuren?«, fragte Victor. »Seine Fußabdrücke?«
Richard fuhr sich mit den Fingern durch sein nasses Haar. »Die Spuren sind mithilfe von Magie ausgelöscht worden. Ich habe alles abgesucht, es existieren keine Fußspuren. Betrachtet den Stein. Obwohl er bewegt und teilweise aus seiner Vertiefung im Waldboden getreten wurde, weist er keinerlei Schürfspuren auf. Ein Stiefel, der ihn hart genug streift, um ihn in dieser Weise zu bewegen, hätte Kratzer hinterlassen müssen, doch die gibt es ebenso wenig wie weitere Fußspuren.«
Nicci schlug ihre Kapuze zurück. »Du verdrehst alles, was du findest, so lange, bis es zu dem passt, was du gerne glauben möchtest, Richard. Aber beides gleichzeitig geht nicht. Wenn seine Fährte mit Magie ausgelöscht wurde, wie kommt es dann, dass du sie dennoch anhand dieses Steins aufspüren kannst?«
»Vermutlich, weil die verwendete Magie nur die Fußspuren auslöscht. Wer immer diese Magie angewendet hat, kann sich unmöglich gut mit Fährten oder Fährtenlesen auskennen. Meiner Meinung nach ist der Betreffende mit der Welt draußen, in der freien Natur, nicht sonderlich vertraut. Als diese Leute ihre Fußspuren mithilfe von Magie verwischten, haben sie vermutlich gar keinen Gedanken darauf verwendet, verschobene Steine wieder in ihre ursprüngliche Lage zu bringen.«
»Richard, bestimmt...«
»Seht Euch doch um«, forderte er sie mit einer ausladenden Armbewegung auf. »Seht doch, wie absolut perfekt der Waldboden aussieht.«
»Worauf wollt Ihr hinaus?«, fragte Victor.
»Er ist zu perfekt. Zweige, Blätter, Rinde, das alles ist viel zu gleichmäßig verteilt. Die Natur ist viel unberechenbarer.«
Nicci, Victor und Cara starrten auf den Boden. Nicci konnte nichts weiter als einen ganz normal aussehenden Waldboden erkennen; da und dort sprossen kleine Pflänzchen – Föhrensämlinge, in die Höhe schießendes Unkraut oder ein Eichenspross mit gerade mal drei großen Blättern – aus der sich aus Zweigen, Moos, Rinde und totem, über dem Bett aus Föhrennadeln verteiltem Laub zusammensetzenden Waldstreu. Ihre Kenntnisse über Spuren, Spurenlesen und den Wald insgesamt waren nicht sonderlich ausgeprägt – wenn er wollte, dass sie seiner Spur folgen konnte, markierte er die Bäume stets mit Kerben –, aber nichts deutete darauf hin, dass jemand diese Stelle passiert hatte, noch wirkte der Waldboden übermäßig perfekt, wie Richard behauptete. »Seht Euch die Vertiefung an, sie ist noch immer deutlich ausgeprägt«, fuhr Richard fort. »Anhand des Erosionsgrads der Ränder lässt sich ermitteln, dass es erst vor wenigen Tagen passiert ist. Die Zeit lässt diese Ränder erodieren vor allem bei Regen – und bewirkt, dass die Vertiefung sich füllt. Wäre ein Reh oder Elch gegen diesen Stein getreten, hätten sie Spuren hinterlassen, die genauso frisch wären. Und nicht nur das, ein Huf hätte, ebenso wie ein Stiefel, Kratzspuren hinterlassen. Lasst Euch gesagt sein, vor drei Tagen ist jemand über diesen Stein gestolpert.«
Nicci gestikulierte. »Aber dieser abgestorbene Ast dort drüben hätte doch auf ihn gefallen sein und ihn aus seiner Lage gebracht haben können.«
»In diesem Fall hätte der Aufprall in der auf dem Stein wachsenden Flechte eine Kerbe hinterlassen, und der Ast wiese irgendwelche Spuren auf, dass er gegen etwas Hartes geprallt ist. Aber das ist nicht der Fall – ich habe bereits nachgesehen.«
Cara warf die Hände in die Luft. »Vielleicht ist ein Eichhörnchen von einem Baum herab gesprungen und auf dem Stein gelandet.«
»Es wäre nicht annähernd schwer genug gewesen, um den Stein zu bewegen«, widersprach Richard. Ermattet holte Nicci Luft. »Du behauptest also, die Tatsache, dass es von dieser Frau, Kahlan, keine Spuren gibt, beweist ihre Existenz.«
»Nein, das behaupte ich keineswegs, jedenfalls nicht so, wie Ihr es formuliert. Aber wenn man alles zusammen betrachtet und man erkennt, wie die Dinge zusammenhängen, dann bestätigt diese Tatsache genau das.«
Nicci spürte, wie ihr die Zornesröte ins Gesicht stieg. »Das ist lächerlich. Alles, was du uns gezeigt hast, Richard, beweist lediglich, dass diese Frau, die du dir einbildest, nichts weiter ist als eben das –ein Produkt deiner Einbildung. Sie existiert nicht, und sie hat auch keine Spuren hinterlassen – weil du sie nur geträumt hast. An der ganzen Geschichte ist überhaupt nichts rätselhaft, und sie hat auch nichts mit Magie zu tun, es ist einfach nur ein Traum!«
»Irgendetwas stimmt hier nicht«, sagte Richard plötzlich mit leise warnender Stimme, ohne auf Niccis Worte einzugehen.
Sofort schnellte Caras Strafer in ihre Faust. Victors Züge strafften sich, während seine Hand zu der an seinem Gürtel hängenden Keule ging.
In der Ferne jenseits des tröpfelnden Waldes vernahm Nicci das unvermittelte heftige Warngeschrei von Raben. Die Schreie, die darauf antworteten, erinnerten sie an nichts so sehr wie an das Gebrüll eines blutigen Gemetzels.