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Augenblicklich hastete Richard mit Riesenschritten zurück durch den Wald, zurück zu den wartenden Männern und der Stelle, wo die Schreie erklungen waren. Hals über Kopf raste er durch ein verschwimmendes Gewirr aus Bäumen, Ästen, Gestrüpp, Farnen und Schlingpflanzen, sprang über vermodernde Baumstämme und setzte dank eines überlegt platzierten Stiefels über einen Findling hinweg. Er bahnte sich in geduckter Haltung einen Weg durch junge Föhrenhaine sowie ein Gestrüpp blühenden Blumenhartriegels, schlug, ohne sein Tempo zu drosseln, Lärchenzweige zur Seite und tauchte unter Tannenzweigen hindurch – mehr als einmal hätte er sich um ein Haar auf einem toten, speergleich aus einem größeren Stamm herausragenden Ast aufgespießt, ehe er im letzten Augenblick noch ausweichen konnte. In diesem leichtsinnigen Tempo durch dichten Wald zu rennen hatte halt seine Tücken – erst recht bei Regen.

Den ganzen Weg über gellte ihm beim Laufen das entsetzliche Gebrüll in den Ohren, vernahm er die Schreie, das Kreischen und die widerwärtig knackenden Laute. Hinter sich hörte er Cara, Victor und Nicci geräuschvoll durch das Unterholz brechen, aber er hatte nicht die Absicht, zu warten, bis sie ihn eingeholt hätten. Mit jedem seiner ausgreifenden Schritte, mit jedem Satz vergrößerte sich sein Vorsprung noch. Richard rannte, so schnell ihn seine Füße trugen, doch schon nach kurzer Zeit begann er zu keuchen und musste zu seiner Überraschung feststellen, dass ihm vorzeitig die Luft auszugehen drohte. Anfänglich bestürzt, besann er sich Augenblicke später auf den Grund: Nicci hatte ihm erklärt, dass er noch nicht wieder vollständig genesen sei und er sich wegen seines hohen Blutverlusts noch dringend schonen müsse, um wieder zu Kräften zu kommen. Er rannte trotzdem weiter. Dann würde er eben mit den Kräften auskommen müssen, die ihm zur Verfügung standen, es war schließlich nicht mehr weit. Vor allem aber lief er weiter, weil diese Männer Hilfe brauchten.

Manchmal, in Augenblicken wie diesem, wünschte er sich, mehr über das Herbeirufen seiner Gabe zu wissen. Seine Kenntnisse beschränkten sich im Grunde weitgehend auf das, was der Prophet Nathan Rahl ihm erklärt hatte: dass seine Kraft meist durch Zorn sowie eine besondere, ganz bestimmte Art unstillbaren Verlangens ausgelöst wurde, das er bislang weder hatte identifizieren noch isolieren können. Soweit er hatte beobachten können, war in jeder Situation ein dem Wesen nach ganz charakteristisches Verlangen nötig, um seine Kraft auszulösen.

Noch während er so durch das Gehölz hastete, senkte sich unerwartet Stille über den Wald. Nach und nach verstummten die hallenden Schreie, und die dunstige grüne Wildnis war wieder dem gedämpften Flüstern des sanften Regens überlassen, der durch das üppige Blattwerk fiel. Umgeben von einer scheinbar friedlichen und nun auch wieder stillen Welt, kam es ihm fast so vor, als hätte er sich die entsetzlichen Geräusche nur eingebildet.

Trotz seiner Erschöpfung ließ Richard in seinem Tempo nicht nach und lauschte im Laufen auf irgendein Lebenszeichen der Männer, aber sein eigener angestrengter Atem, der Puls in seinen Ohren und seine hastig dahineilenden Tritte überlagerten fast jedes andere Geräusch. Aus irgendeinem Grund erschien ihm die gespenstische Stille beängstigender als zuvor das Geschrei. Was anfangs wie die Raben geklungen hatte – ein heiseres Krächzen, das zu einer Art angsterfülltem Gekreisch anschwoll, wie ein Tier es nur im Augenblick seines gewaltsamen Todes von sich gibt –, war irgendwann in menschliche Laute umgeschlagen, bis schließlich außer der bedrohlichen Stille nichts mehr zu hören war. Richard versuchte, sich einzureden, dass er sich die Verwandlung der Schreie in menschliche Laute nur eingebildet habe. So schauderhaft das Gekreisch auch geklungen haben mochte, die bedrückende, unnatürliche, erst nach seinem Verklingen einsetzende Stille war es, bei der ihn eine prickelnde Gänsehaut überlief und sich ihm die Nackenhaare sträubten.

Unmittelbar vor Erreichen des Randes der Lichtung zog Richard endlich sein Schwert. Das unverwechselbare Geräusch beim Ziehen der Klinge hallte mit schneidendem Klirren durch den Wald und zerriss die Stille. Augenblicklich schoss der Zorn des Schwertes heiß durch jede Faser seines Körpers, um in gleicher Weise von seinem ureigenen Zorn erwidert zu werden. Wieder einmal überließ sich Richard seinen wohl vertrauten magischen Kräften, auf die er voll und ganz vertraute.

Erfüllt von der Kraft des Schwertes, brannte er darauf, endlich die Ursache der Gefahr zu sehen, dürstete es ihn danach, ihr ein Ende zu bereiten.

Es hatte eine Zeit gegeben, da hatte er sich aus Angst und Unsicherheit dem hochschießenden, von der uralten, von Zauberern geschaffenen Klinge ausgelösten Gewaltausbruch nur widerstrebend hingegeben, hatte er gezögert, der Aufforderung mit seinem ureigenen Zorn zu entsprechen, doch mittlerweile hatte er gelernt, sich von dem Begeisterungssturm des Zorns mitreißen zu lassen. Diese Kraft war es, die er auf sein Ziel richtete. In der Vergangenheit hatte es immer wieder Personen gegeben, die ein heftiges Verlangen nach der Kraft des Schwertes verspürt hatten, die aber in ihrer blinden Gier nach etwas, das eigentlich anderen gehörte, die geheimnisvolleren, durch den Gebrauch einer solchen Waffe heraufbeschworenen Gefahren nicht erkannt hatten. Statt zum Herrscher über die Magie waren sie zu Sklaven der Klinge geworden, Sklaven ihres eigenen Zorns und ihrer habsüchtigen Gier.

Wieder andere hatten sich der magischen Kraft dieser Waffe zu unheilvollen Zwecken bedient. Die Klinge selbst traf daran keine Schuld. Der Gebrauch des Schwertes, im Guten wie im Schlechten, war stets der bewussten Entscheidung dessen unterworfen, der sie führte, alle Verantwortung lag bei ihm. Am Rand jener Lichtung, wo wenige Tage zuvor bei dem Überfall die Soldaten ums Leben gekommen waren, hielt Richard inne. Das Schwert in der Hand, sog er – trotz des allgegenwärtigen Verwesungsgestanks – die Luft tief in seine Lungen und versuchte, wieder zu Atem zu kommen. Als er die Augen über den bizarren Anblick schweifen ließ, der sich ihm bot, hatte er zunächst Schwierigkeiten, überhaupt zu begreifen, was er da sah.

Der Boden war bedeckt mit toten Raben, aber sie waren nicht bloß tot, sie waren in Stücke gerissen. Die Lichtung war mit Flügeln, Köpfen und anderen Kadaverteilen übersät. Tausende Federn hatten sich, gleich einer Decke aus schwarzem Schnee, über die verwesenden Soldatenleichen gelegt. Der Schock lähmte ihn nur kurz. Noch immer außer Atem, erkannte Richard, dass dies nicht der Ort war, den er gesucht hatte. Mit eiligen Schritten stürmte er über den Schauplatz des Kampfes hinweg, hastete durch die Lücken zwischen den Bäumen eine niedrige Böschung hinan und lief über das zertretene Grün bis zu jener Stelle, wo die Männer gewartet hatten.

Noch während er lief, schaukelte sich der Zorn weiter hoch und ließ ihn alle Müdigkeit und Erschöpfung vergessen, ließ ihn vergessen, dass er noch nicht wieder völlig genesen war, und bereitete ihn vor auf den zu erwartenden Kampf. In diesem Moment zählte für ihn nur eins: Er musste sich zu den Männern durchschlagen, oder präziser, er musste sich auf die Gefahr stürzen, welche die Männer bedrohte. Das Erste, was Richard ins Auge stach, als er aus dem kleinen Birkenwäldchen hervorbrach, war der Ahornbaum, unter dem die Männer gewartet hatten. Die unteren Äste waren vollkommen kahl gefegt worden. Es schien, als wäre ein Sturm herab gefahren und durch den Wald getost. Wo vor kurzem noch kleine Bäume gewachsen waren, standen jetzt nur noch zersplitterte Stümpfe. Überall lagen Zweige mit regennassem Laub oder Föhrennadeln. Riesige, bizarr zersplitterte Baumstümpfe ragten aus dem Waldboden wie zerbrochene Speere nach einer Schlacht. Nahezu alles, was zuvor in grünen Farben geleuchtet hatte, ob im matten Hellgrün des Salbeis, in Gelbgrün oder einem satten Smaragdgrün, war jetzt mit roten Spritzern besudelt. Keuchend stand Richard mit pochendem Herzen da und versuchte, seinen Zorn gegen eine Bedrohung zu richten, die er nicht einmal annähernd zu erkennen vermochte. Er suchte die Schatten und das Dunkel weiter hinten zwischen den Bäumen mit den Augen ab, um zu sehen, ob sich dort irgendetwas rührte, bemühte sich, so etwas wie Ordnung in das Chaos zu bringen, das er vor sich auf dem Waldboden erblickte. Cara kam schlitternd an seiner linken Seite zum Stehen, bereit, sich in den Kampf zu stürzen. Einen Augenblick darauf blieb Victor stolpernd rechts von ihm stehen, die Keule fest in seiner geballten Faust. Unmittelbar darauf kam auch Nicci angelaufen – zwar ohne sichtbare Waffe, trotzdem konnte Richard spüren, wie die Luft rings um sie her vor ihrer entfesselungsbereiten Kraft regelrecht knisterte. »Bei den Gütigen Seelen«, stieß der Schmied tonlos hervor und machte Anstalten, die Hand mit seiner sechsschneidigen Keule erhoben, einer tödlichen, von ihm eigenhändig angefertigten Waffe, sich vorsichtig weiter vorzutasten.