»Ich sage es nur ungern«, sagte Cara, »aber mir erscheint das auch sinnvoller.«
»Ich bin derselben Meinung«, erklärte Rikka.
»Also gut, ruf die Sliph.« Sich mit einer Hand das Haar aus dem Gesicht haltend, spähte sie noch einmal hinab in den Brunnen. »Und beeil dich, bevor sie neugierig werden, warum ich so lange brauche.«
Ohne eine Sekunde zu zögern, streckte Richard seine geballten Fäuste über den Brunnenrand. Er musste seine Gabe auf den Plan rufen, um die Sliph herbeizurufen, und sich auf seine Talente zu berufen gehörte nicht eben zu den Dingen, in denen er geübt war. Doch dann fasste er einen Entschluss: Er hatte es schon einmal getan, nun würde er es eben wieder tun müssen.
Er ließ seine Anspannung von sich abfallen. Sofort löste das ehrliche und brennende Bedürfnis, zu tun, was immer er tun musste, um Kahlan zu helfen, tief in seinem Innern sein Verlangen aus. Deutlich spürte er, wie es aus dem Kern seines Seins tosend an die Oberfläche schoss, ihm den Atem raubte. Das machtvolle Gefühl in seinem Innern ließ ihn die Bauchmuskeln anspannen.
Zwischen seinen ausgestreckten Handgelenken flammte ein Licht auf. Er erkannte das Gefühl augenblicklich wieder und presste die beiden gepolsterten, mit Silber durchwirkten Armbänder aneinander, die daraufhin mit einer solchen Helligkeit erstrahlten, dass er durch Fleisch und Knochen hindurch die andere Seite der schweren Silberarmbänder erkennen konnte.
Richard konzentrierte sich voll und ganz auf sein Vorhaben, bis er keinen anderen Wunsch mehr verspürte, als dass die Sliph zu ihm komme, damit er Kahlan helfen könne. Es dürstete ihn so sehr danach, dass er es schlicht verlangte.
Komm zu mir!
Ein gleißendes Licht entzündete sich und zuckte unter lautem Geheul wie ein Blitz genau in der Mitte des Brunnenschachts in die Tiefe, doch statt des Donnengrollens vernahm man ein lautes Knistern, als das Gemisch aus Licht und Feuer die Luft mit lautem Getöse zerriss und mit unfassbarer Geschwindigkeit in die Tiefen der Dunkelheit hinabschoss.
Alle, die um den Brunnenrand herumstanden, warfen einen bangen Blick in den vom Blitz erhellten Brunnenschacht, nur Nicci dachte daran, sich außerdem noch umzusehen, und hielt ein Auge auf den Raum ringsum. Offenbar befürchtete sie, die Bestie könnte plötzlich auftauchen. Das Echo der Energie, die Richard in den Brunnen hinabgejagt hatte, brauchte lange, bis es endgültig verklungen war, aber schließlich herrschte wieder völlige Stille.
Und in dieser Stille der Burg, in der Ruhe dieses Berges aus totem Gestein, der sich ringsum und über ihnen auftürmte, war plötzlich ein fernes, tiefes Grollen zu hören. Das Grollen von etwas, das zum Leben erwachte.
Eine immer stärker werdende Kraft brachte den Boden zum Zittern, bis aus den Ritzen und Spalten Staub aufzusteigen begann und kleine Steinchen über den bebenden Steinfußboden hüpften. Ganz unten in den fernen Tiefen begann der Brunnen sich mit etwas zu füllen, das, vom heulenden Kreischen extrem hoher Geschwindigkeit begleitet, mit unglaublichem Tempo den Schacht heraufgeschossen kam. Das Heulen schwoll immer mehr an, als die Sliph, dem Ruf folgend, nach oben raste. Die drei Frauen traten vom Brunnenrand zurück, als die silbrig schimmernde Masse nach oben schwappte und mit einer Plötzlichkeit zum Stillstand kam, der eine gewisse Eleganz nicht abzusprechen war. In der Mitte des schwappenden, silbrigen Beckens entstand ein metallisch glänzender Höcker, der sich über den Rand der steinernen, den Brunnen einfassenden Ummauerung erhob. Scheinbar wie von selbst zog er sich zu einem massigen Körper zusammen, der zu einer erkennbaren Gestalt heranwuchs, deren glänzende Oberfläche, einem flüssigen Spiegel gleich, den gesamten Raum ringsum reflektierte, immer höher wuchs, sich verformte und dabei die auf ihrer Außenseite gespiegelten Bilder verzerrte. Es sah in der Tat aus wie flüssiges Quecksilber.
Die noch immer in die Höhe wachsende Gestalt verzog sich weiter, bildete Flächen und Kanten, Falten und Rundungen aus, bis schließlich das Gesicht einer Frau entstand. Ein silbriges Lächeln breitete sich über das Gesicht, ausgelöst, so schien es, durch das Wieder erkennen. »Du hast mich gerufen, Herr?«
Die gespenstische, feminine Stimme der Sliph hallte ringsum durch den Raum, obwohl sich ihre Lippen nicht bewegt hatten.
Ohne Niccis und Rikkas großäugig staunende Gesichter zu beachten, trat Richard näher heran. »Ja. Ich danke dir, dass du gekommen bist, Sliph. Ich brauche dich.«
Das silbrige Lächeln war sichtlich erfreut. »Du möchtest reisen, Herr?«
»Ja, ich möchte reisen. Wir alle möchten reisen. Wir müssen.«
Das Lächeln wurde breiter. »Dann kommt. Reisen wir.«
Richard bat die anderen, sich dicht an der Ummauerung um ihn zu scharen. Das flüssige Metall bildete eine Hand aus, die herüberlangte und jede der drei Frauen nacheinander berührte. »Du bist schon einmal gereist«, sagte die Sliph nach einer flüchtigen Berührung ihrer Stirn zu Cara. »Du darfst reisen.«
Dann strich die Innenfläche der glänzenden Hand über Niccis Stirn, wo sie ein wenig länger verweilte. »Du besitzt, was nötig ist. Du darfst reisen.«
Ihren Widerwillen gegen alles Magische ignorierend, reckte Rikka ihr das Kinn entgegen und behauptete tapfer ihre Stellung, als die Sliph sie an der Stirn berührte.
»Du darfst nicht reisen«, entschied die Sliph.
Rikka machte ein empörtes Gesicht. »Aber wenn Cara es kann wieso dann nicht auch ich?«
»Du bist nicht im Besitz beider erforderlicher Seiten«, antwortete die Stimme.
Trotzig verschränkte Rikka die Arme vor der Brust. »Aber ich muss sie begleiten, also werde ich es auch tun, und damit basta.«
»Die Entscheidung liegt bei dir, aber wenn du in mir reist, wirst du sterben, und dann kannst du ebenso wenig bei ihnen sein.«
Ehe sie etwas erwidern konnte, legte Richard ihr eine beschwichtigende Hand auf den Arm. »Cara hat die Kräfte einer Person übernommen, die einen Funken der erforderlichen Magie enthielt, deswegen kann sie reisen. Da ist leider nichts zu machen. Ihr werdet hier zurückbleiben müssen.«
Rikka machte einen alles andere als glücklichen Eindruck, schließlich aber nickte sie. »Na schön, aber dann solltet Ihr Euch jetzt auf den Weg machen.«
»Komm«, wandte sich die Sliph an Richard, »wir werden reisen. An welchen Ort möchtest du reisen?«
Fast hätte Richard es laut ausgesprochen, aber im letzten Moment konnte er sich noch zurückhalten. Er wandte sich noch einmal an Rikka.
»Wenn Ihr uns schon nicht begleiten könnt, halte ich es für das Beste, wenn Ihr jetzt geht, damit Ihr nicht einmal hört, wohin ich reise. Wenn Ihr Bescheid wisst, besteht die Gefahr, dass die anderen doch noch irgendwie dahinter kommen, und das möchte ich nicht riskieren. Wenn er es darauf anlegt, kann mein Großvater nämlich ziemlich gerissen sein und alle möglichen üblen Tricks anwenden, um zu bekommen, was er will.«
»Das müsst Ihr mir wohl kaum erklären.« Rikka stieß einen resignierten Seufzer aus. »Aber wahrscheinlich habt Ihr Recht, Lord Rahl.« Mit einem Lächeln sagte sie zu Cara: »Pass gut auf ihn auf.«
Cara nickte. »Das tue ich immer. Ohne mich ist er nämlich ziemlich aufgeschmissen.«
Richard überging Caras Prahlerei. »Ihr müsst Zedd etwas von mir ausrichten, Rikka. Ihr müsst ihm eine Nachricht von mir überbringen.«
Die Stirn in Falten gelegt, hörte Rikka aufmerksam zu. »Richtet ihm bitte aus, dass vier Schwestern der Finsternis Kahlan gefangen genommen haben, und zwar die echte Mutter Konfessor, nicht den Leichnam, der unten in Aydindril begraben liegt. Sagt ihm, dass ich vorhabe, so bald wie möglich zurückzukehren, und ihm dann den Beweis liefern werde. Außerdem bitte ich ihn, mir nach meiner Rückkehr Gelegenheit zu geben, ihm den mitgebrachten Beweis zu zeigen, und zwar bevor er einen Versuch unternimmt, mich zu heilen. Und bitte sagt ihm noch, ich liebe ihn und habe Verständnis dafür, dass er um mich besorgt ist, dass ich aber tun müsse, was die Aufgabe des Suchers ist, wie er es mir selbst beim Überreichen des Schwertes der Wahrheit aufgetragen hat.«