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»Die Luft ist rein«, verkündete Nicci mit leiser Stimme, als sie sich wieder aus den Schatten schälte. »Mein Han sagt mir, dass sich in der unmittelbaren Umgebung sonst niemand mehr befindet.«

Erleichtert ließ Richard die Anspannung aus seinen Muskeln weichen. Dann hörte er das Mädchen in stillem Entsetzen leise wimmern und setzte sich unmittelbar neben sie auf die oberste Treppenstufe. »Schon gut.« Sachte fasste er sie bei den Schultern und drängte sie, sich aufzurichten. »Ich tu dir nicht weh. Du bist jetzt erst einmal in Sicherheit.«

Kaum hatte sie sich aufgerichtet, zog er das völlig verängstigte Mädchen in seine Arme, drückte sie beschützend an sich und zog, als sie zu den drei Toten hinüberblickte, so als könnten sie noch immer jeden Moment aufspringen und sie ihm wieder entreißen, ihren Kopf an seine Schulter. Sie war ein zierliches, gelenkiges Ding, ein junges Mädchen an der Schwelle zur erwachsenen Frau, und doch wirkte sie so zerbrechlich wie ein gerade flügge gewordener Vogel. Vor Erleichterung weinend, schlang sie ihre dünnen Arme um Richards Hals. »Ist der Vogel ein Freund von dir?«, fragte er.

»Das ist Lokey«, bestätigte sie mit einem Nicken. »Er passt auf mich auf.«

»Nun, heute Abend hat er seine Sache jedenfalls gut gemacht.« »Ich dachte schon, Ihr würdet nicht mehr kommen, Meister Rahl. Ich dachte, ich wäre schuld daran, weil ich Euch als Priesterin nicht gut genug bin.«

Er strich ihr mit der Hand über den Hinterkopf. »Woher wusstest du denn, dass ich kommen würde?«

»Die Weissagungen haben gesagt, dass es so geschehen wird. Aber ich hab schon so lange gewartet, dass ich dachte, sie hätten sich geirrt. Ich hatte die Hoffnung fast schon aufgegeben und dachte, Ihr würdet uns vielleicht nicht als würdig befinden, und hatte Angst, ich wäre womöglich schuld daran.«

Mit diesen Weissagungen, vermutete er, war offenbar eine Art Prophezeiungen gemeint. »Du sagst, du bist Priesterin?«

Als sie darauf nickte, ein Stück zurückwich und in sein lächelndes Gesicht schaute, sah Richard, dass ihre großen, kupferfarbenen Augen hinter einer tiefdunklen, auf ihr Gesicht aufgemalten streifenförmigen Maske hervorlugten.

»Ich bin die Priesterin der Gebeine. Ihr seid zurückgekehrt, um mir zu helfen. Ich bin Eure Dienerin und dazu ausersehen, die Träume zu übertragen.«

»Zurückgekehrt ?«

»Ins Leben. Ihr seid von den Toten zurückgekehrt.«

Richard starrte sie nur verständnislos an.

Nicci hockte sich neben das Mädchen. »Was meinst du damit, er ist von den Toten zurückgekehrt?«

Das Mädchen zeigte hinter sie, auf das Gebäude, aus dem sie hervorgekommen waren. »Aus dem Totenreich zurückgekehrt zu uns, den Lebenden. Sein Name steht hier auf dem Grabstein.«

Richard drehte sich um. Tatsächlich, dort erblickte er seinen in das Monument gemeißelten Namen. Sofort musste er daran denken, dass er auch Kahlans Namen in Stein gemeißelt gesehen hatte – und beide lebten sie noch, obwohl es mit ihrem Namen gekennzeichnete Gräber gab.

Das Mädchen sah erst zu Cara, dann zu Nicci. »In den Weissagungen heißt es, dass Ihr wieder ins Leben zurückkehren werdet, aber nicht, dass Ihr Eure Schutzgeister mitbringen würdet.«

»Ich bin nicht von den Toten zurückgekehrt«, klärte er sie auf. »Ich bin durch die Sliph gekommen, aus dem Brunnen dort unten.«

Sie nickte. »Das ist der Brunnen der Toten. In den Weissagungen war von diesen rätselhaften Dingen die Rede, aber ich wusste nie, was sie bedeuten.«

»Wie soll ich dich anreden, mit ›Priesterin‹ oder mit deinem Namen?«

»Ihr seid Meister Rahl, Ihr könnt mich nennen, wie immer es Euch beliebt. Aber mein Name ist Julian. Den Namen habe ich schon mein Leben lang.«

»Also, Julian, mein Name ist Richard. Ich würde mich freuen, wenn du mich Richard nennen würdest.«

Sie nickte, noch immer diesen ehrfurchtsvollen Blick in ihren großen, runden Augen, dabei wusste er nicht einmal, ob ihre Ehrfurcht dem Meister Rahl galt oder einem zu den Lebenden zurückgekehrten Toten, der soeben aus seinem Grab gestiegen war.

»Jetzt pass mal auf, Jillian, über deine Weissagungen weiß ich überhaupt nichts, jedenfalls noch nicht, aber eins musst du verstehen, ich bin nicht von den Toten zurückgekehrt. Ich bin hierher gereist, weil ich in Schwierigkeiten stecke und weil ich auf der Suche nach Antworten bin.«

»Die Schwierigkeiten habt Ihr ja nun gefunden, Ihr habt gerade drei von ihnen getötet. Und die Antwort lautet: Ihr müsst mir helfen, die Träume zu übertragen, damit wir diese bösen Männer verjagen können. Sie haben den größten Teil unseres Volkes in die Verstecke getrieben. Die Älteren sind dort unten.« Sie wies den dunklen Hang hinab. »Sie zittern vor Angst, dass diese Männer sie töten könnten, wenn sie nicht finden, was sie suchen.«

»Und was suchen sie?«

»Das weiß ich nicht genau. Ich hatte mich bei den Seelen unserer Vorfahren versteckt. Die Männer müssen dort unten jemanden gezwungen haben, ihnen von mir zu erzählen, denn als sie mich heute endlich gefangen nahmen, kannten sie meinen Namen. Eine ganze Weile hab ich verhindern können, dass ich ihnen in die Hände fiel, aber heute haben sie mir an einer Stelle aufgelauert, wo ich einen kleinen Lebensmittelvorrat versteckt hatte. Die Männer haben mich gepackt und wollten, dass ich ihnen zeige, wo die Bücher sind.«

»Dies sind keine regulären Truppen der Imperialen Ordnung«, befand Nicci, als sie seine fragend gerunzelte Stirn bemerkte. »Sie gehören zu einer Vorhut aus Kundschaftern.«

Richards Blick wanderte hinüber zu den Toten. »Woher wollt Ihr das wissen?«

»Reguläre Truppen der Imperialen Ordnung würden einen niemals auffordern, die Waffen niederzulegen und sich zu ergeben, nur Späher, die Wege durch ihnen unbekanntes Land suchen und dabei alles an Informationen zusammenzutragen versuchen, was sie nur finden können, würden Gefangene machen. Sie verhören die Leute, und wer nicht redet, wird zur Truppe verbracht, um dort gefoltert zu werden. Diese Späher sind es, die als Erste die geheimen Verstecke der Bücher finden, die anschließend zusammengetragen werden, um sie Kaiser Jagang vorzulegen. Späher wie diese haben nicht nur die Aufgabe, Marschrouten für die Truppen auszukundschaften, sie sollen auch etwas für den Kaiser sehr viel Wichtigeres aufspüren: Informationen nämlich, vor allem solche, die in Büchern enthalten sind.«

Er wusste nur zu gut, wie zutreffend das war. Jagang, so schien es, war ein Experte für Geschichte, für die Taten und Errungenschaften früherer Zeiten. Richard konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass er ständig Dinge in Erfahrung zu bringen versuchte, die Jagang längst bekannt waren. »Und, haben diese Männer schon irgendwelche Bücher gefunden?«, fragte Richard Julian. Sie blinzelte ihn aus ihren kupferfarbenen Augen an. »Mein Großvater hat immer von irgendwelchen Büchern erzählt, aber gesehen hab ich hier noch keine. Die Stadt ist schon seit langer Zeit verlassen. Wenn es hier Bücher gegeben hätte, wären sie bestimmt schon längst als Diebesbeute fortgeschleppt worden, wie alle anderen Wertgegenstände auch.«

Das war nicht das, was Richard zu hören gehofft hatte, denn natürlich hatte er erwartet, hier auf irgendeinen konkreten Hinweis zu stoßen, der ihm helfen würde, eine Antwort auf seine Fragen zu finden. Shota hatte schließlich davon gesprochen, er müsse die Stätte der Gebeine im Herzen der Leere finden, und diese Bezeichnung traf auf den Friedhof, auf dem er jetzt stand, ganz gewiss zu. »Dieser Ort wird Herz der Leere genannt?«, wandte er sich erneut an Julian. Sie nickte. »Es ist ein unermesslich weites Land, in dem es kaum Leben gibt. Niemand außer meinem Volk ist in der Lage, diesem verlassenen Landstrich das bisschen abzuringen, was man zum Leben braucht. Die Gegend ist seit jeher so gefürchtet, dass sich kaum jemand hierher wagt, und wer es dennoch tut, dessen Knochen liegen jetzt hier, oder dort draußen, weiter südlich, vor der Großen Barriere. Das Land wird Herz der Leere genannt.«