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Sie drehte sich um und blickte durch die Rundbogen nach hinten. »Das wäre gar nicht gut. Aber bis dahin hätten die Träume sie längst vertrieben.«

»Haben sich deine Vorfahren etwa durch das Übertragen von Träumen retten können? Oder die Bewohner dieser Stadt?«

Sie sah ihm wieder in die Augen. »Das wohl nicht.«

»Das Wichtigste überhaupt ist, dass Menschen, die das Leben zu würdigen wissen, so wie du, dein Großvater und dein Volk, ein sicheres, selbstbestimmtes Leben führen können; und das bedeutet manchmal eben, dass man die, die einem Böses wollen, beseitigen muss.«

Sie schluckte. »Ja, Lord Rahl.«

Lächelnd legte er ihr eine Hand auf die Schulter. »Richard. Ich bin zwar der Lord Rahl, aber trotzdem möchte ich, dass die Menschen in Frieden so leben können, wie sie selbst dies wünschen.« Endlich ging ein Lächeln über ihre Lippen. Richard wandte sich wieder dem Mosaik zu und betrachtete das Bild. »Weißt du, was das bedeutet? Dieses Bild, meine ich.«

»Nun, seht Ihr die Mauer dort?« Sie zeigte mit dem Finger darauf. »In den Weissagungen heißt es, dass diese Mauern einst die Gräber der Bewohner dieser Stadt beherbergten. Diese Stelle hier bezeichnet den Ort, an dem wir uns jetzt befinden. Dies ist der Durchgang, der zu den Toten führt. Weiterhin heißt es dort, dass es zwar stets Tote gab, aber nur diesen einen Ort, um sie innerhalb der Stadtmauer zu beerdigen. Die Menschen damals wollten nicht, dass ihre Lieben weit von ihnen entfernt lagen, fernab jener Stelle, die sie als heilige Stätte ihrer Ahnen betrachteten, daher legten sie diese Durchgänge an, wo sie eine Ruhestätte für sie finden konnten.«

Shotas Worte fielen ihm wieder ein. Du musst die Stätte der Gebeine im Herzen der Leere finden. Was du suchst, ist lange begraben.

»Zeig mir diesen Ort«, bat er Julian.

Die Stelle war unzugänglicher, als er erwartet hatte. Der Weg zurück durch das Gebäude führte durch ein wahres Labyrinth aus Durchgängen und Räumen, streckenweise wurden sie zwischen Mauern hindurchgeleitet, die zu den Sternen hin offen waren, nur um gleich darauf wieder in die dunklen Tiefen des Gemäuers einzutauchen. »Dies ist der Weg der Toten«, klärte Julian ihn auf. »Auf diesem Weg wurden die Verstorbenen hereingetragen. Es heißt, man habe ihn so angelegt, weil man hoffte, die Seelen der Toten würden sich durch diese Gänge verwirren lassen, sodass es den Seelen der frisch Verstorbenen unmöglich wäre, diesen Ort wieder zu verlassen. Eingesperrt an diesem Ort und unfähig, sich wieder unter die Lebenden zu mischen, würden sie stattdessen ihren Weg bis zu ihrem Platz in der Welt der Seelen fortsetzen, wo sie hingehörten.« Schließlich traten sie wieder hinaus in die Nacht. Soeben ging über der alten Stadt Caska ein sichelförmiger Mond auf. Hoch über ihnen zog Lokey seine Kreise und machte seine kleine Freundin mit einem Ruf auf sich aufmerksam, die zurückwinkte. Der Friedhof, der sich vor ihnen ausbreitete, war von beachtlicher Größe, trotzdem schien er für eine ganze Stadt unzureichend. Richard ging auf dem zwischen den dicht beieinander liegenden Gräbern hindurchführenden Fußweg neben Julian her. Ab und an waren ein paar knorrige Bäume zu erkennen, im Großen und Ganzen aber machte der Ort, mit seiner wildblumenübersäten Landschaft, im Mondschein einen friedlichen Eindruck. »Wo sind denn nun diese Durchgänge, von denen du gesprochen hast?«, wandte er sich nach einer Weile an sie. »Tut mir Leid, Richard, aber das weiß ich nicht. In den Weissagungen ist von ihnen die Rede, aber wo genau sie sich befinden, wird dort nicht erwähnt.«

»Kennst du denn noch andere Orte, wo sich diese Durchgänge befinden könnten, von denen in den Weissagungen die Rede ist?«

Julian verzog den Mund, während sie nachdachte. »Tut mir Leid, nein. Aber sobald die Luft rein, können wir zu meinem Großvater hinuntergehen und mit ihm sprechen. Wie vorhin schon gesagt: Er weiß ungeheuer viel – viel mehr als ich.«

Richard war sich keineswegs sicher, ob er noch genug Zeit hatte, sich die Geschichten ihres Großvaters anzuhören. Lokey war unterdessen flatternd nicht weit entfernt auf dem Boden gelandet und tat sich an den frisch aus der Erde kommenden Zikaden gütlich. Siebzehn Jahre hatten sie in der Erde überlebt, und jetzt krabbelten sie in immer größeren Scharen aus der Erde hervor, nur um sogleich von einem Raben aufgepickt zu werden.

Noch einmal rief sich Richard die Prophezeiung ins Gedächtnis, die Nathan ihm vorgelesen hatte. Darin war von ebendiesen Zikaden die Rede gewesen. Es war die Rede davon gewesen, dass in dem Augenblick, da sich die Zikaden zeigten, die letzte und entscheidende Schlacht unmittelbar bevorstehe. Die Welt, so hieß es dort, stehe am Rande der Finsternis.

Am Rande der Finsternis. Richards Blick wanderte hinüber zu der Stelle, wo die Zikaden hervorkamen, und sah ihnen zu, wie sie aus der Erde krabbelten.

Und während er dieses Schauspiel beobachtete, dämmerte ihm plötzlich, dass sie alle durch einen Spalt in einem Grabstein hervorgekrochen kamen, der mit dem Gesicht nach unten auf dem leicht ansteigenden Boden lag. Lokey hatte offenbar die gleiche Beobachtung gemacht, weshalb er jetzt dort saß und sie verspeiste. »Das ist seltsam«, sagte er bei sich.

»Was ist seltsam?«

»Na, schau doch. Die Zikaden arbeiten sich nicht durch die Erde an die Oberfläche, sie scheinen geradewegs unter dem Grabstein her vorzukrabbeln.«

Unter den Blicken Lokeys, der ihn mit seitlich geneigtem Kopf beobachtete, ließ Richard sich auf die Knie hinunter und schob seine Finger in den Spalt. Darunter schien sich ein Hohlraum zu befinden. Ächzend vor Anstrengung zog Richard an dem Stein. Der begann sich zu lösen, und als er sich allmählich heben ließ, erkannte er, dass er auf der linken Seite mit Angeln versehen war. Schließlich gab er endgültig nach und ließ sich umklappen.

Richard starrte hinab in das Dunkel. Bei dem Stein handelte es sich mitnichten um eine Gedenktafel, sondern um die steinerne Abdeckung eines Einstiegsschachts. Sofort entnahm er seinem Bündel die Glaskugel und hielt sie, sobald sie zu leuchten begonnen hatte, in den dunklen Schlund. Julian stockte der Atem. »Da ist ja eine Treppe!«

»Komm mit, aber sieh dich vor.«

Die Stufen waren aus Stein, unregelmäßig und schmal. Jede einzelne Trittkante war ausgetreten und von den unzähligen Füßen abgerundet, die über sie hinweggegangen waren. Der Gang war mit Gesteinsquadern gesäumt, sodass man ungehindert bis tief unter die Erde hinabsteigen konnte – bis die Stufen schließlich auf einen Absatz mündeten und dort nach rechts abschwenkten. Nach einer weiteren langen Treppenflucht bogen sie nach links ab und führten dort weiter in die Tiefe hinab.

Als sie schließlich am unteren Ende anlangten, mündete der Durchgang in eine Reihe breiterer Gänge, die in das massive, aber weiche Gestein des eigentlichen Untergrunds geschlagen worden waren.

Die leuchtende Glaskugel in der einen Hand und Julians Hand in der anderen, beugte sich Richard ein wenig vor, um sich nicht an der niedrigen Decke zu stoßen, und führte sie immer tiefer nach unten. Binnen kurzem erreichten sie einen Quergang. »Lassen sich deine Weissagungen irgendwie darüber aus, wie man sich hier unten zurechtfindet?« Sie schüttelte den Kopf. »Was ist mit all den Irrgängen, die du dir eingeprägt hast? Was meinst du, könnten sie dir hier unten vielleicht weiterhelfen?«

»Ich weiß nicht. Ich wusste ja nicht einmal, dass es diesen Ort überhaupt gibt.«

Mit einem Seufzer warf Richard einen Blick in jeden der beide Gänge. »Also gut, dann gehe ich eben einfach weiter hinein. Wenn d der Meinung bist, irgendetwas wieder zu erkennen, oder dir ein Streckenabschnitt bekannt vorkommt, lass es mich wissen.«

Nachdem sie eingewilligt hatte, begannen sie, die linke Abzweigung entlangzugehen. Kurz darauf stießen sie auf die ersten, zu beiden Seiten des engen Ganges in die Wände geschlagenen Nischen, in denen jeweils die Überreste eines Körpers lagen. Mitunter waren die Toten dort zu sogar dritt oder zu fünft aufgeschichtet, in einigen aber lagen nur deren zwei, vermutlich Ehemann nebst Gemahlin. Der schmale Durchgang mündete in eine Kammer, von der zehn Öffnungen in unterschiedlichen Richtungen abgingen und sich tunnelartig in das Gestein hineinbohrten. Richard wählte aufs Geratewohl einen aus und folgte ihm ein kleines Stück. Auch dieser Gang mündete schließlich in einen geräumigeren Hohlraum, von dem abermals ein Labyrinth aus weiteren unterirdischen Gängen abzweigte, wobei sich das Niveau des Fußbodens laufend veränderte; ab und zu senkte er sich noch weiter ab, gelegentlich aber ging es auch wieder ein Stück nach oben.