Kurz darauf stießen sie auf die ersten Gebeine.
Es gab Räume, in denen sich ähnliche Knochen jeweils in einer eigenen Wandnische stapelten; so lagen in einer, sorgfältig aufeinander geschichtet, ausschließlich Schädel, in einer anderen dagegen, alle gleich ausgerichtet, übereinander geschichtete Beinknochen, Armknochen in wieder einer anderen. Große steinerne Behältnisse, die man in die Seitenwände geschlagen hatte, enthielten kleinere Knochen, allesamt säuberlich hineingelegt. Richard und Julian durchquerten Gruft auf Gruft, und überall stießen sie auf ganze Wände aus menschlichen Schädeln, deren Zahl gewiss in die Zehntausende ging. Er war sich bewusst, dass er nur einen zufällig ausgewählten Durchgang vor sich hatte, und gerade deswegen überstieg die Zahl der hier, in diesen Katakomben, beigesetzten Menschen sein Vorstellungsvermögen. So schaurig, ja sogar erschreckend der Anblick so vieler Toter sein mochte, jeder einzelne ihrer Knochen schien mit einer gewissen Ehrerbietung eingelagert worden zu sein. Nicht einer war einfach achtlos in eine Ecke geworfen worden, im Gegenteil, man hatte ihnen die gleiche Sorgfalt zuteil werden lassen wie einem geachteten lebenden Wesen. Weit über eine Stunde, so schien es ihnen, bahnten sie sich einen Weg durch dieses Tunnellabyrinth, in dem sich jeder Abschnitt vom vorherigen unterschied. Mal waren die Durchgänge breit, mal eng, einige waren auf beiden Seiten von Räumen gesäumt. Nach einer Weile dämmerte Richard, dass jede dieser Grabkammern offenbar aus dem weichen Gestein geschlagen worden war, um Platz für eine Familie zu schaffen. Was wohl auch der Grund dafür war, dass die Wandnischen den gesamten verfügbaren Platz auf so willkürliche Weise auszufüllen schienen.
Schließlich gelangten sie in einen teilweise eingefallenen Abschnitt des Tunnelsystems. Ein mächtiger Gesteinsbrocken war herabgestürzt und mit ihm ein Haufen von Geröll ringsum. Richard blieb stehen und besah sich das steinerne Chaos. »Schätze, hier ist unser Weg zu Ende.«
Julian ging in die Hocke und spähte unter den Gesteinsbrocken, der den Durchgang in schrägem Winkel versperrte. »Ich kann einen Weg erkennen, der drunter durchführt.« Sie wandte sich zu Richard um; wie sie so hinter der quer über ihr Gesicht gemalten Maske hervorlugten, hatten ihre kupferfarbenen Augen etwas Furchterregendes. »Ich bin kleiner. Wollt Ihr, dass ich kurz mal einen Blick hineinwerfe?«
Richard hielt die leuchtende Glaskugel in die Öffnung, um ihr den Weg zu leuchten. »Also gut. Aber sobald du das Gefühl hast, dass es gefährlich werden könnte, will ich, dass du auf keinen Fall weiter kriechst. Hier unten gibt es abertausende unterirdischer Gänge, es gibt also noch genügend andere, in denen wir uns umsehen können.«
»Aber diesen Gang habt Ihr gefunden, und Ihr seid der Lord Rahl. Er muss also etwas zu bedeuten haben.«
»Ich bin auch nur ein Mensch, Julian – und nicht irgendein mit Weisheit gesegneter, aus dem Totenreich zurückgekehrter Geist.«
»Wenn Ihr meint, Richard.« Wenigstens ging ein Lächeln über ihre Lippen, als sie dies sagte. Dann verschwand Julian in der spitzwinkligen Öffnung, ganz ähnlich einem kleinen Vogel, der durch ein Dornengestrüpp schlüpft. Augenblicke später war ihre hallende Stimme zu hören. »Hier ist alles voller Bücher!«
»Bücher?«, rief er in die Öffnung hinein.
»Ja, jede Menge. Es ist stockfinster hier, aber es sieht aus, als gebe es hier einen großen Raum voll mit Büchern.«
»Ich komme«, rief er.
Er musste sein Bündel abnehmen und vor sich herschieben, als er sich hineinzwängte, trotzdem erwies sich die Kriecherei als nicht ganz so mühselig wie befürchtet, sodass er bald hindurch war. Als er sich auf der anderen Seite wieder aufrichtete, sah er, dass der riesige Gesteinsquader, der in schrägem Winkel quer im Durchgang lag, früher eine Tür gewesen war. Eine Tür, die offenbar so konstruiert war, dass sie aus einem in die Seitenwand gehauenen Spalt hervorglitt. Irgendwann jedoch war die massive Tür zerbrochen und zur Seite gekippt. Als Richard den Staub entfernte, um sich das Chaos näher zu betrachten, entdeckte er eine Metallplatte, wie sie zum Aktivieren eines Schildes verwendet wurde.
Der Gedanke, dass diese Bücher einst mit einem Schild gesichert gewesen waren, ließ sein Herz schneller schlagen.
Er drehte sich wieder zu dem Raum herum. Der warme Schein der leuchtenden Glaskugel enthüllte tatsächlich eine Kammer voller Bücher, deren Seitenwände, scheinbar ohne erkennbaren Grund, seltsam verwinkelt waren. Den staunenden Blick auf die unzähligen Bücher gerichtet, schlenderten Richard und Julian durch den Mittelgang. Ganz ähnlich wie in den letzten Ruhestätten der Toten waren auch hier die meisten Regale aus Platzgründen direkt in den massiven Fels hineingetrieben worden. Richard hielt die Kugel in die Höhe und ließ den Blick über die Regale wandern.
»Hör zu«, sagte er zu Julian. »Ich suche etwas ganz Bestimmtes, das den Namen ›Feuerkette‹ trägt. Möglicherweise handelt es sich um ein Buch. Du beginnst auf der einen Seite, ich übernehme die andere. Und achte bitte sorgfältig darauf, dass du dir jeden einzelnen Buchtitel genau ansiehst.«
Julian nickte. »Wenn es hier drin ist, werden wir es auch finden.«
Die gewaltigen Ausmaße der alten Bibliothek hatten etwas Entmutigendes. Zoll für Zoll arbeiteten sie sich voran, bis sie um eine Ecke bogen, wo sie auf eine Reihe von Nebenkammern stießen, die zwar kleiner als der Hauptraum, nichtsdestoweniger aber auch voller Bücher waren. Die Suche ging nur langsam voran, da sie auf gleicher Höhe arbeiten mussten, um beide etwas sehen zu können. Mehrere Stunden arbeiteten sie sich gewissenhaft durch die gesamte Bibliothek. Ab und an mussten sie kurz stehen bleiben, um den Staub von einem Buchrücken zu blasen.
Richard war müde und zunehmend frustriert, bis sie endlich an eine Stelle gelangten, wo er eine weitere Metallplatte entdeckte. Er presste seine Hand dagegen, und sofort geriet die Felswand vor ihnen in Bewegung. Die Tür war nicht groß, und nach einer kurzen Drehung tat sich dahinter tiefste Dunkelheit auf. Er hoffte, dass die Schilde unmittelbar auf das Erkennen seiner Gabe ansprangen und nicht erst dadurch ausgelöst wurden, dass sie seine magischen Kräfte zwangen, auf ein lautloses unmerkliches Signal zu reagieren. Wenn sich die Bestie plötzlich zeigte, wollte er sich wirklich nicht ausgerechnet hier unten in den Katakomben befinden. Richard hielt das Licht in das Dunkel und erblickte eine kleine Kammer voller Bücher. Des Weiteren gab es einen Tisch, der jedoch vor langer Zeit schon unter der Last eines darauf gestürzten Teils der Decke zusammengebrochen war.
Während Julian, voll konzentriert mit dem Finger die Titel entziffernd, an den Buchrücken entlangfuhr, eilte Richard mit fünf großen Schritten zur gegenüberliegenden Wand hinüber, wo er tatsächlich eine weitere Metallplatte entdeckte. Er presste seine Hand darauf.
Langsam schwang eine weitere schmale Tür von ihm fort, hinein in das Dunkel. Er zog den Kopf noch etwas tiefer zwischen die Schultern, trat in die Türöffnung und hielt das Licht ein Stück weit hinein. »Wünschst du zu reisen, Herr?«, schlug ihm eine hallende Stimme entgegen. Er starrte auf einen hellen Lichtpunkt, der vom silbrigen Gesicht der Sliph zurückgeworfen wurde. Es war der Brunnenraum, durch den sie hergekommen waren. Die Türöffnung befand sich genau gegenüber den Treppenstufen, neben denen sie die erste Metallplatte entdeckt hatten, mit der sich die Decke hatte öffnen lassen. Sie hatten den größten Teil der Nacht damit verbracht, im Kreis herumzulaufen, nur um letztendlich wieder dort zu landen, wo sie angefangen hatten.