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»Seht mal, was ich hier habe, Richard.«

Richard drehte sich zu Julian herum und sah sich dem roten Ledereinband eines Buches gegenüber, das sie ihm vor die Nase hielt.

Es trug den Titel Feuerkette.

Richard war so verblüfft, dass er kein Wort hervorbrachte.

Julian folgte ihm, breit grinsend über ihren Fund, in den Raum der Sliph, als er diesen rückwärts gehend betrat und ihr das Buch dabei aus den Händen nahm.

Ihm war, als hätte er seinen Körper verlassen und betrachtete sich selbst, in den Händen das Buch mit dem Titel Feuerkette.

62

»Richard?« Es war Niccis Stimme.

Immer noch verdutzt, dass er tatsächlich eine Schrift mit dem Titel Feuerkette gefunden hatte, ging er hinüber zu den Treppenstufen und schaute hoch. Im ersten Licht der Morgendämmerung zeichneten sich dort die Umrisse von Nicci und Cara ab, die zu ihm herabblickten.

»Ich habe es gefunden, das heißt, genau genommen hat Julian es gefunden.«

»Wie in aller Welt seid ihr da hinunter gekommen?«, wollte Nicci wissen, als Richard und Julian sich anschickten, die Stufen hinaufzusteigen.

»Julian?«, rief eine Männerstimme.

»Großvater!« Julian flitzte die restlichen Stufen hinauf und warf sich dem alten Mann in die Arme. Richard stieg hinter ihr die Stufen hinauf, auf deren oberster sich Nicci niedergelassen hatte. »Das ist Julians Großvater«, stellte Nicci ihn mit einer Handbewegung vor. »Er ist der Erzähler dieser Leute, und obendrein der Hüter des alten Wissens.«

»Freut mich, Euch kennen zu lernen«, sagte Richard und ergriff die Hand des alten Mannes mit beiden Händen. »Ihr habt eine erstaunliche Enkeltochter. Sie war mir eine ungeheuer große Hilfe.«

»Ihr hättet es bestimmt auch gefunden, ich hab es bloß zuerst gesehen«, sagte Julian, ein Strahlen im Gesicht. Richard erwiderte das Lächeln, dann wandte er sich an Nicci. »Was ist aus Jagangs Männern geworden?«

Die zuckte nur mit den Achseln. »Ein nächtlicher Nebel hat sie überrascht.«

Während sich Julian an der Seite ihres Großvaters entfernte, um den auf einer nahen Mauer hockenden Raben zu begrüßen, wandte sich Richard in vertraulichem Ton an Nicci und Cara. »Ein Nebel?«

»Ja.« Nicci verschränkte die Finger um ein Knie. »Sie gerieten in eine Art seltsamen, rauchigen Nebel, der sie erblinden ließ.«

»Nicht nur erblinden«, setzte Cara mit unverhohlener Schadenfreude hinzu, »er hat ihnen die Augen in den Höhlen platzen lassen. Es war ein einziges blutiges Chaos. Ganz nach meinem Geschmack.«

Richard sah Nicci stirnrunzelnd an und wartete auf eine Erklärung. »Es sind Späher«, erklärte sie. »Ich kenne diese Männer, und sie kennen mich, deshalb wollte ich nicht, dass sie mich sehen. Vor allem aber wollte ich, dass sie für Jagang wertlos sind – auch die, die überlebt haben. Nach dem, was Julians Großvater mir sagte, hegt er Zweifel, ob es viele von ihnen wieder zurück bis zu Jagangs Truppen schaffen werden; trotzdem habe ich darauf geachtet, dass sie in der Nähe ihrer Pferde waren, damit die Tiere sie ins Lager zurücktragen können. Ich will, dass die Überlebenden dieser grauenhaften Quälerei nichts anderes zu berichten wissen, als dass plötzlich ein Nebel von den Bergen herabgezogen kam – und sie in einem fremden, abweisenden und von Geistern heimgesuchten Land geblendet wurden. Solche Neuigkeiten dürften seine Männer in Angst und Schrecken versetzen. Es mag für Jagangs Armee ein prächtiges Vergnügen sein, hilflose Menschen zu vergewaltigen, auszurauben und abzuschlachten, aber Vorfälle wie diese mögen sie überhaupt nicht. In einer grandiosen Schlacht im Namen des Schöpfers ums Leben zu kommen und anschließend im Leben nach dem Tod seinen Lohn zu erhalten ist eine Sache, etwas völlig anderes aber ist es, von etwas übermannt zu werden, das für einen unsichtbar aus dem Dunkel kommt und einen derart hilflos macht.

Ich gehe davon aus, dass Jagang sich eher entschließen wird, dieses Land zu umgehen, als zuzulassen, dass eine unbekannte Gefahr seine Männer so sehr in Angst und Schrecken versetzt und sie es sich womöglich zweimal überlegen lässt, ob sie auch weiterhin zum Ruhm des Schöpfers und der Imperialen Ordnung kämpfen wollen –as bedeuten würde, dass sich ihr Vormarsch Richtung Süden um eine beträchtliche Strecke verlängert. Dadurch wiederum dürfte sich auch ihr Schwenk hinein nach D’Hara verzögern.«

Richard nickte nachdenklich. »Sehr gut, Nicci. Ausgezeichnet.« Sie strahlte. »Was hast du da?« »Eine Schrift. Sie trägt den Titel Feuerkette.« Er stieg die Stufen ein Stück höher hinauf und ließ sich zwischen Nicci und Cara nieder, zögerte aber, den Einband aufzuschlagen. »Es wäre mir lieber, wenn Ihr zuerst einen Blick hineinwerfen würdet, nur für den Fall, dass es eine Art Prophezeiung oder dergleichen ist.«

Besorgnis legte sich über ihre feinen Züge. »Natürlich, Richard. Gib nur her.«

Er gab ihr das Buch und stand auf. Er wollte auf keinen Fall riskieren, aus Versehen einen Blick hineinzuwerfen, und zu spät feststellen, dass er es besser nicht getan hätte oder die Bestie jeden Moment über sie herfallen konnte – erst recht nicht jetzt, da er so kurz davor stand, Antwort auf seine Fragen zu erhalten. Unterdessen hatte Nicci bereits damit begonnen, die Seiten des Buches zu überfliegen. Cara sah ihr über die Schultern und las mit, ehe sie unvermittelt verkündete: »Das alles ergibt doch überhaupt keinen Sinn.«

Nicci dagegen war ganz und gar nicht dieser Ansicht, wie Richard zu erkennen meinte, denn auf einmal wurde sie leichenblass. »Bei den Gütigen Seelen ...«, hauchte sie mit tonloser Stimme.

Während sie ohne ein Wort an die anderen weiterlas, ließ sich Richard etwas abseits am Hang unter einem Olivenbaum nieder. Er streckte die Hand aus und wollte schon zum Zeitvertreib ein Blatt von einer Schlingpflanze dort rupfen, als er, die Hand nur wenige Zoll von den schwärzlich-scheckigen Blättern entfernt, zögerte. Eine eiskalte Gänsehaut kroch prickelnd seinen Arm hoch. Er wusste, worum es sich bei dieser Schlingpflanze handelte. Der Text aus dem Buch der Gezählten Schatten, jenem Buch, das sein Vater ihn hatte auswendig lernen lassen, ehe sie es gemeinsam vernichtet hatten, kam ihm wieder in den Sinn:

Und wenn die drei Kästchen der Ordnung ins Spiel gebracht werden, wird die Schlingpflanze zu wachsen beginnen.

»Was ist denn?«, erkundigte sich Julian zu ihm gebeugt mit leiser Stimme. »Ihr seht ja aus, als hättet Ihr ein Gespenst gesehen.«

»Hast du diese Pflanze jemals hier wachsen sehen, in der Gegend, wo dein Volk lebt?«

»Nein, ich glaube nicht.«

»Sie hat Recht«, bestätigte Julians Großvater mit Verwunderung in der Stimme. »Ich habe mein ganzes Leben in dieser Gegend verbracht, trotzdem kann ich mich nicht erinnern, diese Schlingpflanze jemals gesehen zu haben außer für einen ganz kurzen Zeitraum – ich glaube, das muss so etwa vor drei Jahren gewesen sein. Ja, richtig, in diesem Herbst sind es drei Jahre. Kurze Zeit später ist sie wieder eingegangen, und seitdem habe ich sie nicht mehr gesehen.«

Richard konnte an der frisch gesprossenen Schlingpflanze keine Schoten entdecken. Vorsichtig streckte er die Hand aus und brach einen Spross ab.

»Dieses Buch ist unglaublich gefährlich, Richard«, verkündete Nicci, die Stimme belegt vor Sorge. Sie war so sehr in das Buch vertieft, in dem sie noch immer las, dass sie gar nicht darauf geachtet hatte, worüber sich die anderen unterhielten. »Mehr als gefährlich.« Sie hatte beim Sprechen weiter gelesen. »Ich bin erst ganz am Anfang, aber das ist... ich weiß gar nicht, wo ich beginnen soll...«

Unterdessen hatte sich Richard erhoben, hielt den Spross der Schlingpflanze in die Höhe und starrte darauf. »Wir müssen fort«, verkündete er. »Auf der Stelle.«

Etwas am Klang seiner Stimme ließ Cara und sogar Nicci aufschauen. »Was ist denn, Lord Rahl?«, erkundigte sich Cara.