»Du siehst aus, als hättest du den Geist deines Vaters gesehen«, meinte Nicci. »Nein, das hier ist viel schlimmer«, erklärte ihr Richard, als er endlich aufsah. »Jetzt begreife ich. Ich weiß jetzt, was passiert ist.«
Er lief zu den Stufen, die in sein Grabmal hinunterführten. »Sliph! Wir müssen augenblicklich reisen!«
»Aber Richard, Ihr seid doch hergekommen, um mir beim Über tragen der Träume zu helfen, damit diese bösen Menschen nicht hierher kommen.«
»Hör zu, Kleines, ich muss fort. Jetzt gleich.«
»Lord Rahl hat uns schon nach besten Kräften geholfen«, versuchte ihr Großvater sie zu besänftigen und legte ihr einen Arm um ihre schmächtigen Schultern. »Wenn er kann, wird er gewiss zu uns zurückkehren.«
»So ist es«, bestätigte Richard. »Wenn ich kann, komme ich zurück. Ich danke dir für deine Hilfe, Julian. Du kannst dir nicht einmal ansatzweise vorstellen, was du am heutigen Tag geleistet hast. Und sag deinen Leuten, sie sollen sich von diesen Schlingpflanzen fern halten.«
»Was ist nur in dich gefahren, Richard?«, erkundigte sich Nicci besorgt. Doch er packte nur Niccis Kleid an der Schulter und schnappt sich Caras Arm. »Wir müssen zum Palast des Volkes. Auf der Stelle.«
»Aber warum? Was ist denn nur los? Was hast du herausgefunden?«
Richard hielt ihr kurz den Spross der Schlingpflanze vors Gesicht, ehe er ihn in eine Tasche stopfte und sie erneut beim Arm packte und die Stufen hinunterzog.
»Dies ist eine Schlingpflanze, die nur wächst, wenn die Kästchen der Ordnung ins Spiel gebracht worden sind.«
»Aber die Kästchen der Ordnung stehen sicher aufgehoben im Palast«, protestierte Cara. »Von sicher kann keine Rede mehr sein. Diese vermaledeiten Schwestern haben die Magie der Ordnung ins Spiel gebracht. Sliph! Wir müssen zum Palast des Volkes reisen.« »Komm, dann reisen wir.«
Nicci sträubte sich noch immer dagegen, von ihm mitgeschleift zu werden. »Ich weiß wirklich nicht, was das mit deinem Traum von dieser Frau zu tun haben soll.«
Doch Richard schlug nur mit seiner flachen Hand auf die Metallplatte und setzte damit den Mechanismus in Gang, der das Dach schloss. »Auf Wiedersehen, Julian. Ich danke dir. Eines Tages werde ich zurückkehren.«
Sie winkte noch, da griff er bereits zu seinem Bogen mitsamt Köcher und wandte sich herum zu Nicci. »Sie brauchen Kahlan, weil sie die letzte Konfessorin ist. Sie haben die Kästchen der Ordnung ins Spiel gebracht, und jetzt benötigen sie das Buch, das ich damals auswendig gelernt habe. Es beginnt mit den Worten: ›Die Überprüfung der Richtigkeit der Worte des Buches der Gezählten Schatten, so sie von einem anderen gesprochen werden als jenem, der über die Kästchen gebietet, kann nur durch den Einsatz eines Konfessors gewährleistet werden ...‹«
Er kletterte auf die Ummauerung des Brunnens und zog die beiden Frauen zu sich herauf. »Augenblick, warte noch.« Nicci schnürte das Bündel auf. »Das solltest du besser sicher verwahren.« Damit stopfte sie das Buch mit dem Titel Feuerkette hinein und zurrte die Lasche wieder fest. »Worum geht es Eurer Meinung nach in diesem Buch?« Ihr blauäugiger Blick bohrte sich in seine Augen. »Soweit ich dem kurzen Abschnitt entnehmen konnte, den ich ganz zu Anfang überflogen habe, handelt es sich um eine theoretische Formel für die Schaffung gewisser Dinge mithilfe von Magie, denen das Potenzial innewohnt, das gesamte Sein aufzuheben.«
»Das Sein aufzuheben? Was soll das nun wieder heißen?«, fragte Cara. »Ich bin mir nicht ganz sicher, aber es scheint mir eine theoretische Abhandlung über eine ganz bestimmte Art von Magie zu sein, die, einmal in Gang gesetzt, möglicherweise die gesamte Welt des Lebendigen auslöschen könnte.«
»Wozu in aller Welt sollten sie so etwas benötigen?«, ereiferte sich Richard. »Wo sie jetzt doch im Besitz der Magie der Ordnung sind.« Nicci verzichtete auf eine Erwiderung. Seine Theorie überzeugte sie nicht, weil sie auf der Existenz dieser Frau, dieser Kahlan, gründete.
»Sliph, ich bitte dich. Bring uns jetzt zum Palast des Volkes.« Der Arm der Sliph nahm sie auf. »Kommt, wir werden reisen.« Unmittelbar bevor sie in den silbrigen Schaum eintauchten, ergriffen Nicci und Cara jeweils wieder eine seiner Hände und hielten sich daran fest.
63
Der Raum, in dem sie sich nach der Reise befanden, war durch Schilde gesichert. Richard zog sie und Cara durch den mächtigen Schild, dann hasteten sie einen marmornen Flur entlang und durch eine mit Silber beschlagene Doppeltür, in deren Metallverkleidung die reliefartige Darstellung eines Sees eingearbeitet war. »Ich kenne diesen Ort«, meinte Cara. »Jetzt weiß ich, wo wir sind.«
»Gut. Dann übernehmt Ihr die Führung. Und bitte, beeilt Euch.«
Es gab Augenblicke, da wünschte sich Nicci fast, sie hätte sich mit Zedds, Anns und Nathans Plan, ihm die Erinnerung an diese Kahlan auszutreiben, einverstanden erklärt – wäre da nicht dieser Zwischenfall gewesen. Drüben, in Caska, hatte sie diese Hypothese an einem der Soldaten Jagangs ausprobiert und versucht, die Erinnerung des Mannes an den Kaiser mithilfe subtraktiver Magie zu löschen. Im Grunde, so schien es, eine ganz einfache Geschichte. Sie war exakt so vorgegangen, wie sie es auf Drängen der drei bei Richard hätte machen sollen. Allerdings war dabei ein Problem aufgetreten: Der Mann war ums Leben gekommen, und zwar auf höchst barbarische Weise.
Bei dem Gedanken, dass sie Richard um ein Haar dasselbe angetan hätte, dass sie sich fast hätte überreden lassen und einen kurzen Augenblick lang sogar fest entschlossen gewesen war, hatte sie auf einmal ein solches Schwäche- und Schwindelgefühl überkommen, dass sie sich neben dem toten Soldaten hatte auf die Erde setzen müssen. Cara hatte schon geglaubt, sie würde das Bewusstsein verlieren. »Hier entlang.« Cara führte sie eine Treppe hinauf, die in einen breiten, teilweise mit Glas überdachten Flur mündete. Durch das Glasdach fiel rötliches Licht herein, demnach war es entweder kurz vor Sonnenuntergang oder kurz nach Anbruch der Morgendämmerung, Nicci konnte es nicht genau erkennen. Es war überaus verwirrend, nicht zu wissen, ob es Tag oder Nacht war.
Auf den Fluren wimmelte es nur so von Menschen. Viele blieben stehen, um die drei durch den Flur hastenden Fremden anzugaffen, was auch den Wachen nicht verborgen blieb, die sogleich, die Hände an den Waffen, angelaufen kamen – bis sie Cara in ihrem roten Lederanzug bemerkten. Nicht wenige erkannten Richard wieder und ließen sich, als er vorüberrannte, gesenkten Hauptes auf ein Knie fallen, doch er drosselte nicht einmal sein Tempo, um ihren Gruß zu erwidern.
Immer höher hinauf ging es, durch eine Schwindel erregende Abfolge von Fluren und zu überquerenden Brücken und Galerien, zwischen Säulen hindurch und durch irgendwelche Gemächer. Ab und zu hasteten sie eine weitere Treppe hinauf, und manchmal führte Cara sie, zweifellos in der Absicht, den Weg abzukürzen, sogar durch Flure, die normalerweise Dienstboten vorbehalten waren.
Nicci konnte nicht umhin, die beeindruckende Pracht des Palasts zu bemerken, seine beispiellose Schönheit. Die zu Mustern angeordneten Steinfußböden waren ungewöhnlich präzise verlegt, überall gab es eindrucksvolle Statuen zu bestaunen – keine davon ganz so überragend wie jene, die Richard einst in Stein gemeißelt hatte, aber nichtsdestoweniger beeindruckend ...
»Hier entlang«, sagte Cara unvermittelt und deutete auf einen Gang, auf den sie mit hastigen Schritten zuhielt. Als sie an eine Doppeltür aus Mahagoni gelangten, deren Schlangenschnitzereien Nicci sofort mit Abscheu erfüllten, bremste Cara schlitternd ab. Ohne zu zögern, packte Richard einen der Türgriffe, einen bronzenen Schädel, und zog die Tür mit einem Ruck auf.
Die vier Gardisten im Innern des stillen, mit Teppichen ausgelegten Gemachs sprangen sofort auf, um sich ihm in den Weg zu stellen. Dann erblickten sie Cara, und ihr Blick wanderte unschlüssig noch einmal zurück zu Richard.
»Lord Rahl?«, fragte einer verunsichert.