»Allerdings«, fauchte Cara den Soldaten an. »Und jetzt gebt endlich den Weg frei.«
Die Soldaten traten augenblicklich zur Seite und schlugen sich die Faust vors Herz.
»Gab es in der letzten Zeit irgendwelche Vorkommnisse?«, erkundigte sich Richard, nach Atem ringend. »Vorkommnisse?«
»Ja, irgendwelche Eindringlinge? Hat jemand sich heimlich hier hereingeschlichen?«
Dem Mann entfuhr ein freudloses Lachen. »Wohl kaum, Lord Rahl. Und wenn, dann hätten wir es bemerkt und zu verhindern gewusst.«
Richard dankte ihm mit einem Nicken und lief zur Marmortreppe hinüber, wobei er Nicci fast den Arm ausrenkte. Am oberen Treppenabsatz kamen ihnen bereits Soldaten entgegengelaufen, die mit rot gefiederten Bolzen bestückten Armbrüste einsatzbereit in den Händen. Sie wussten nicht, dass sie Lord Rahl vor sich hatten, in ihren Augen unternahm soeben jemand den Versuch, in den verbotenen Bereich einzudringen. Nicci konnte nur hoffen, dass sie rechtzeitig wieder zur Besinnung kamen, ehe einer der Männer sich zu einer unbedachten Handlung hinreißen ließ. Doch dann erkannte sie an ihrer Reaktion, dass diese Männer bestens ausgebildet waren und wohl kaum dazu neigten, um sich zu schießen, ehe sie sich ihres Zieles sicher waren. Und das war auch ihr Glück, denn sie wäre schneller gewesen.
»Kommandant General Trimack?«, rief Richard, als sich ein Offizier einen Weg durch den waffenstarrenden Ring bahnte, der sich um sie gebildet hatte.
Der Mann straffte sich und schlug sich mit der Faust vors Herz. »Lord Rahl!« Dann erblickte er die Mord-Sith. »Cara?«
Cara begrüßte ihn mit einem Nicken.
Richard fasste sich mit ihm bei den Unterarmen. »General, offenbar ist hier jemand eingedrungen. Und dieser Jemand hat die Kästchen aus dem Garten des Lebens entwendet.«
Einen Moment lang war der General sprachlos. »Was? Völlig ausgeschlossen, Lord Rahl. Ihr müsst Euch irren. Niemand kommt unbemerkt an uns vorbei. Hier oben ist es schon seit einer Ewigkeit vollkommen ruhig, wir hatten gerade mal einen einzigen Besucher.«
»Einen Besucher? Wen?«
»Die Prälatin, Verna. Aber das ist schon eine ganze Weile her. Sie weilte im Palast, weil sie, wie sie sagte, irgendetwas im Zusammenhang mit Schriften über Magie nachschlagen wollte. Und da sie schon einmal im Palast war, wollte sie sich mit eigenen Augen davon überzeugen, dass die Kästchen sicher untergebracht seien.«
»Demnach habt Ihr sie also hineingelassen?«
Ein Anflug von Empörung ging über die Züge des Generals, und sein Gesicht wurde so rot, dass seine lange weiße Narbe deutlich hervortrat.
»Ich würde selbstverständlich niemals zulassen, dass sie diesen Raum betritt, Lord Rahl. Letztendlich einigten wir uns darauf, die Türen zu öffnen, sodass sie einen Blick hineinwerfen und sich überzeugen konnte, dass alles in Ordnung ist.«
»Einen Blick hineinwerfen?«
»Ganz recht. Wir umgaben sie mit einem Ring aus Wachen, die alle diese speziellen Pfeile auf sie gerichtet hatten – Pfeile, mit denen Nathan Rahl uns ausgerüstet hatte, Pfeile, die sogar die mit der Gabe Gesegneten aufzuhalten vermögen. Wir hatten sozusagen einen Ring aus Stahl um sie gelegt. Die arme Frau sah aus, als könnte sie sich jeden Moment in ein Nadelkissen verwandeln.«
Die umstehenden Soldaten bestätigten die Darstellung ihres Vorgesetzten mit allgemeinem Nicken. »Sie warf einen Blick in den Garten und erklärte, sie sei erleichtert, dass alles in bester Ordnung sei. Anschließend habe ich mich selbst davon überzeugt und die Kästchen auf der Steinplatte auf der anderen Seite des Raumes stehen sehen, aber ich schwöre, ich habe die Frau nie auch nur einen Schritt über die Türschwelle setzen lassen.«
Richard stieß einen tiefen Seufzer aus. »Und das war alles? Sonst hat niemand diese Türen geöffnet?«
»Nein, Lord Rahl. Außer meinen Männern war noch nicht einmal jemand hier oben – niemand. Sogar die Flure rings um den Garten des Lebens sind für die Öffentlichkeit gesperrt. Wie Ihr Euch vielleicht erinnert, habt Ihr bei Eurem letzten Besuch hier sehr nachdrücklich darauf bestanden.«
Richard, in Gedanken, nickte. Dann sah er auf. »Also gut, überzeugen wir uns selbst.«
Unter dem Geklirr ihrer Waffen und Rüstungen folgten die Soldaten den überraschenden Besuchern durch den Flur aus poliertem Granit, bis sie vor eine massive, mit Gold beschlagene Eichentür gelangten. Ohne abzuwarten, ob jemand anders dies übernahm, riss Richard einen der schweren Türflügel auf und trat in den Raum hinein. Die Gardisten blieben an der Tür zurück. Dies war offenkundig geweihter Boden, ein allein dem Herrscher des Palasts vorbehaltenes Heiligtum, in das keiner von ihnen jemals ohne ausdrückliche Aufforderung des Lord Rahl einen Fuß setzen würde. Und Richard dachte nicht daran; stattdessen stürzte er allein los.
Obwohl hundemüde, eilte Nicci ihm hinterher, als er einen zwischen mehreren Blumenbeeten hindurchführenden Pfad entlanghastete. Durch das verglaste Dach konnte sie sehen, dass der Himmel eine dunklere, violette Färbung angenommen hatte, demnach war es also Abend und nicht etwa die Morgendämmerung. Wie Richard auch schenkte Nicci den mit Schlingpflanzen überwucherten Wänden, den Bäumen sowie all den anderen Gewächsen, die ringsumher gediehen, kaum Beachtung. Gewiss, der Garten war ein Ort von verschwenderischer Pracht, dennoch war ihr Blick fest auf den steinernen Altar geheftet, den sie in der Ferne sah. Was sie nicht sah, waren die drei Kästchen, die eigentlich dort stehen sollten, stattdessen stand auf der Granitplatte jetzt ein anderer Gegenstand. Sie konnte allerdings nicht erkennen, was es war. Richard dagegen, nach dem hektischen Heben und Senken seiner Brust zu urteilen, schien sehr wohl zu wissen, was dort stand.
Sie überquerten eine kreisrunde Rasenfläche, an die sich ein Streifen nackten Erdbodens anschloss. Auf dem erdigen Streifen stockte Richard plötzlich mitten im Schritt und starrte hinunter auf den Boden. »Was ist denn, Lord Rahl?«, rief Cara.
»Das sind ihre Fußspuren«, sagte er leise. »Ich erkenne sie wieder. Sie sind nicht mittels Magie verwischt worden; sie war allein hier.« Er deutete auf den Boden. »Es sind jeweils zwei Reihen, demnach muss sie also zweimal hier gewesen sein.« Mit den Augen einer für sie unsichtbaren Spur folgend, wandte er sich herum zur Rasenfläche. »Und dort drüben, im Gras, hat sie offenbar auf den Knien gelegen.«
Er setzte sich wieder in Bewegung und legte den Rest der Strecke zu dem steinernen Altar laufend zurück. Sofort verfielen auch Nicci und Cara in Laufschritt, um mit ihm Schritt zu halten. Als sie bei der Granitplatte anlangten, erkannte schließlich auch Nicci den Gegenstand, der einsam und alleine dort stand.
Es war die Statue ebenjener Frau, die, in Marmor gemeißelt, auf dem Platz der Freiheit in Akur’Rang stand, das ursprüngliche Exemplar, von Richard eigenhändig angefertigt, wie er ihnen erklärt hatte, ebenjene Statuette, die nach seinen Worten Kahlan gehörte. Nicci sah sofort, dass sie über und über mit blutigen Handabdrücken bedeckt war.
Mit zitternden Fingern nahm Richard die hölzerne, geschnitzte Figur an sich, presste sie an seine Brust und musste ein Schluchzen unterdrücken. Einen Moment lang glaubte Nicci, er würde zusammenbrechen, doch das tat er nicht.
Irgendwann später dann wandte er sich mit tränenüberströmtem Gesicht zu ihnen herum und hielt den beiden die Statuette dieser stolzen Figur mit dem zurückgeworfenen Kopf und den geballten Fäusten vors Gesicht. »Dies ist die Statuette, die ich für Kahlan geschnitzt habe, die Statuette mit dem Titel Seele. Die Statuette, die sich, wie ich Euch erklärt habe, nicht in Akur’Rang befinden konnte, weil sie sie bei sich hatte. Wenn man von dieser Statuette unten in Akur’Rang, in der Alten Welt, eine Kopie aus Stein angefertigt hat, wie ist sie dann hierher gekommen?«
Nicci starrte sie mit weit aufgerissenen Augen an und versuchte sich mit dem, was sie sah, anzufreunden. Der Widerspruch erschien ihr unauflösbar, unbegreiflich. Sie fühlte sich an Richards hilflose Versuche erinnert, zu begreifen, was er in der Grabstätte gesehen hatte, in der die Mutter Konfessor beerdigt lag. Jetzt wusste sie, wie ihm dabei zumute gewesen sein musste.