»Ich begreife nicht, wie sie hierher gelangt sein kann.« »Indem Kahlan sie hier zurückgelassen hat! Sie hat sie hier zurückgelassen, damit ich sie finde. Sie war es, die die Kästchen der Ordnung für die Schwestern gestohlen hat! Begreift Ihr nicht? Erkennt Ihr die Wahrheit nicht einmal, wenn Ihr mit der Nase draufgestoßen werdet?«
Unfähig, noch ein weiteres Wort zu sagen, presste er die Statuette erneut an seine Brust, als wäre sie sein wertvollster Besitz auf dieser Welt.
In diesem Augenblick, als sie ihn am ganzen Körper vor Schmerz erzittern sah, fragte sie sich, wie es wohl sein mochte, von ihm geliebt zu werden – und bei aller Verwirrtheit, trotz der Traurigkeit über das, was sie hier vor sich sah, und der Schmerzen, unter denen er so offenkundig litt, empfand sie gleichzeitig ein Gefühl der Freude, der Freude darüber, dass Richard einen Menschen hatte, der ihm so viel bedeutete, der in ihm solche Gefühle auszulösen vermochte ... selbst wenn dieser Mensch nur in seiner Fantasie existierte. Nicci war noch immer nicht überzeugt, dass sie real war.
»Versteht Ihr jetzt? Begreift Ihr beide jetzt endlich?«
Cara, die so bestürzt aussah, wie Nicci sich fühlte, schüttelte den Kopf. »Nein, Lord Rahl, ich begreife es nicht.«
Er hielt die kleine Statuette in die Höhe. »Kein Mensch erinnert sich an sie. Wahrscheinlich ist sie geradewegs an diesen Soldaten vorbeigelaufen, und sie haben sie ebenso vergessen wie Ihr, all die unzähligen Male, die Ihr Kahlan schon begegnet seid. Sie ist ganz auf sich gestellt, sie befindet sich in der Gewalt dieser vier Schwestern, die sie gezwungen haben, hierher zu kommen und die Kästchen zu beschaffen. Seht Ihr, wie blutverschmiert sie ist – mit ihrem Blut? Das sollte Euch zu denken geben. Könnt Ihr Euch überhaupt vorstellen, wie ihr zumute sein muss, ganz allein, von aller Welt vergessen? Wahrscheinlich hat sie sie in der Hoffnung hier stehen lassen, dass irgendjemand sie entdeckt und weiß, dass es sie gibt.«
Er hielt sie erst Cara, dann Nicci vors Gesicht. »Seht sie Euch doch an! Sie ist voller Blut! Auf dem Altar ist Blut, ebenso auf der Erde. Dort drüben sind ihre Fußspuren. Was glaubt Ihr wohl, wie die Kästchen verschwunden sind und dies hierher gekommen ist? Sie muss hier gewesen sein.«
In dem Innengarten war es totenstill. Nicci war so perplex, dass sie nicht mehr wusste, was sie noch glauben sollte. Natürlich war ihr klar, was sie vor sich sah, und doch schien es völlig unmöglich. »Glaubt Ihr mir jetzt?«, wandte er sich an die beiden.
Cara schluckte. »Ich will ja gerne glauben, was Ihr da sagt, Lord Rahl, aber ich erinnere mich trotzdem nicht an sie.«
Als sein raubtierhafter Blick zu Nicci hinüberglitt, musste auch sie unter der durchdringenden Kraft dieses Blickes schlucken.
»Ich weiß nicht, was hier gespielt wird, Richard. Was du da sagst, ist sicher ein aussagekräftiger Beweis, aber wie Cara bereits sagte, kann auch ich mich einfach nicht an sie erinnern. Tut mir Leid, aber ich kann dich nicht anlügen und dir etwas erzählen, das du hören willst, nur damit du zufrieden bist. Das ist die Wahrheit, ich weiß noch immer nicht, wovon du eigentlich sprichst.«
»Das weiß ich doch«, erwiderte er und wurde plötzlich ruhig, ja geradezu entgegenkommend. »Genau das versuche ich Euch doch zu erklären. Irgendetwas Fürchterliches ist im Schwange. Kein Mensch erinnert sich an sie. Was immer die Ursache dafür sein mag, es muss sich unzweifelhaft um einen mächtigen und überaus gefährlichen Zauber handeln, wie er nur von den mächtigsten Personen erzeugt werden kann, die über beide Seiten der Gabe verfügen. Eine Magie, die so gefährlich ist, dass sie in einem in einer von Schilden gesicherten Katakombe vergrabenen Buch verborgen war, von Zauberern in der Hoffnung dort versteckt, dass kein Mensch es jemals findet.«
»Feuerkette«, hauchte Nicci tonlos. »Aber nach dem kurzen Ausschnitt, den ich gesehen habe, schien der Text die Macht zu besitzen, die gesamte Welt des Lebens zu vernichten.«
»Was kümmert das die Schwestern?«, fragte Richard verbittert. »Sie haben die Kästchen der Ordnung ins Spiel gebracht und sind offenbar fest entschlossen, dem Hüter des Totenreichs zuliebe allem Leben ein Ende zu bereiten. Gerade Ihr solltet das eigentlich besser verstehen als jeder andere.«
Nicci fasste sich mit der Hand an die Stirn. »Bei den Gütigen Seelen, ich glaube fast, du könntest Recht haben.«
Ihre Fingerspitzen waren taub geworden, und die Angst durchfuhr sie mit einem mächtigen Kribbeln. »Nach den wenigen Zeilen, die ich in diesem Buch gelesen habe, scheint diese Feuerkette mehr oder weniger dem zu entsprechen, was ich auf Geheiß von Zedd, Ann und Nathan bei dir versuchen sollte – nämlich, dich unter Zuhilfenahme von subtraktiver Magie dazu zu bringen, dass du diese Kahlan vergisst. Wenn es stimmt, was du sagst, dann könnten die Schwestern genau das getan haben – sie haben dafür gesorgt, dass sie aus der Erinnerung aller gelöscht wurde.«
Nicci schaute hoch in seine grauen Augen, Augen, in denen sie sich hätte verlieren können. Sie spürte, wie ihr Tränen der Angst über die Wangen liefen.
»Ich habe es ausprobiert, Richard.« »Was sagt Ihr da?«
»Ich habe ausprobiert, was ich mit dir machen sollte – bei einem von Jagangs Leuten, unten in Caska. Ich habe versucht, ihn zu zwingen, Jagang zu vergessen. Das Ganze endete tödlich. Angenommen, genau das ist es, was diese Feuerkette bei allen Menschen bewirkt?« Richard stieß einen ärgerlichen Seufzer aus. »Kommt mit.« Mit entschlossenen Schritten verließ er den Garten und ging hinüber zu dem General und seinen Gardisten, die draußen auf dem Flur aus poliertem Granit in einer dichten Traube um den Eingang des Gartens des Lebens warteten.
»Lord Rahl«, empfing ihn der General, »ich sehe die Kästchen nicht mehr.«
»Richtig. Sie wurden gestohlen.«
Den Soldaten ringsum klappte vor verblüfftem Staunen der Unterkiefer herunter. General Trimacks Augen weiteten sich. »Gestohlen ... aber wer könnte das getan haben? Und wie?«
Richard fuchtelte ihm mit der kleine Statuette vor dem Gesicht herum. »Meine Gemahlin.«
General Trimack sah aus, als wüsste er nicht, ob er einen Wutanfall bekommen oder sich auf der Stelle selbst entleiben sollte. Stattdessen rieb er sich immer wieder mit der Hand über den Mund, während er sich das Gehörte durch den Kopf gehen ließ, offenbar in dem Versuch, es mit seinen anderen Informationen zu einem Bild zu fügen. Schließlich sah er hoch zu Richard, im Blick grimmige Entschlossenheit. »Ich erhalte ständig irgendwelche Berichte, Lord Rahl. Und ich bestehe darauf, sie alle vorgelegt zu bekommen – man kann nie wissen, welches winzige Detail sich später vielleicht noch als sehr hilfreich erweisen kann. Auch General Meiffert schickt mir Berichte, und da er sich derzeit ganz in der Nähe befindet, erreichen sie mich innerhalb weniger Stunden. Die Truppen werden binnen kurzem nach Süden abmarschieren, wodurch sich dieser Vorgang wieder etwas verzögern wird, aber im Augenblick erhalte ich sie frisch.«
»Ich höre.«
»Nun ja, ich weiß nicht, ob es von Bedeutung ist, aber in dem letzten Bericht, der gerade erst heute früh eingegangen ist, hieß es, man sei zufällig auf eine Frau gestoßen, eine alte Frau, die von einem Schwert verwundet wurde. Dem Bericht nach ist ihr Zustand überaus Besorgnis erregend. Ich weiß nicht, warum er mir über so eine Bagatelle einen Bericht schickt, andererseits ist General Meiffert ein ziemlich kluger Bursche, daher muss ich wohl annehmen, dass an dieser Geschichte etwas verdammt merkwürdig sein muss, wenn er mich davon unterrichtet.«
»Wie weit ist es bis zu ihm?«, fragte Richard. »Bis zu den Truppen, meine ich. Wie weit ist es bis dorthin?«
Der General zuckte mit den Achseln. »Zu Pferd? Bei halbwegs forschem Tempo nicht mehr als ein, zwei Stunden.«
»Dann besorgt mir ein paar Pferde. Jetzt gleich.«