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Richard sah, dass es der trügerische Augenblick kurz vor Anbruch der Dämmerung war, genau wie an dem Morgen, als Kahlan verschwunden war – die Frau, die er liebte und die alle so gründlich vergessen zu haben schienen, dass sich niemand an sie erinnern mochte. Wenn sie es war, die geschrien hatte, dann hatte niemand ihren Schrei gehört.

Endlich verstummte der Schrei, und eine Dunkelheit senkte sich über die Welt, die schwärzer war als die Nacht selbst. Es war, als tauche man, verloren und für immer vergessen, in die tintenschwarze Leere des Totenreiches ein. Ein Schauder überlief Richard, und plötzlich fühlte sich seine Haut an, als hätte etwas, das nicht von dieser Welt war, die Welt des Lebens mit purer Verheißung gestreift. Ebenso schnell, wie die Dunkelheit aufgekommen war, war sie auch wieder abgezogen. Die Soldaten warfen einander fragende Blicke zu. Niemand sprach.

Sofort schoss Richard der Gedanke durch den Kopf, dass die Viper jetzt nur noch drei Köpfe hatte. »Der Hüter hat eine der seinen zu sich gerufen«, erklärte er den fragenden Gesichtern, die sich ihm zugewandt hatten. Er sah den General horchend in das Dunkel starren. »Ihr solltet froh sein, dass ein so bösartiger Mensch jetzt nicht mehr unter den Lebenden weilt. Mögen all diese Menschen den Tod finden, den sie so verherrlichen.«

Sein Fluch bewirkte, dass die Soldaten unter zustimmendem Getuschel mit einem befreiten Lächeln auf den Lippen in ihre Zelte zurück krochen, um sich für die noch verbliebenen Stunden der Nacht noch etwas hinzulegen. General Meiffert blickte ihm kurz in die Augen und schlug sich mit der Faust aufs Herz, ehe auch er wieder in seinem Zelt verschwand.

Im trüben Licht des frühmorgendlichen Feldlagers, das auf einmal nur von Zelten und Wagen bevölkert schien, sah er Nicci überaus zielstrebig auf ihn zuhalten. Ihr ganzes Äußeres hatte etwas zutiefst Verstörendes, was daran liegen mochte, dass sie soeben ihrem Zorn Luft gemacht hatte, einem Zorn, den außer ihm vermutlich niemand verstand oder zu würdigen vermochte. Mit ihren wild um den Kopf flatternden blonden Haarsträhnen erinnerte sie ihn an ein Raubtier, ein Raubtier, das im Begriff war, sich, ganz angespannte Muskeln und Klauen, aus dem nächtlichen Dunkel auf ihn zu stürzen. Doch dann bemerkte er ihr tränenüberströmtes Gesicht, ihren verbissen angespannten Kiefer, ihren Schmerz und ihre Verletztheit, diese Mischung aus ungeheurer Bedrohlichkeit und zerbrechlicher Hilflosigkeit, in den Augen ein Ausdruck, der sein Verständnis überforderte, und bat sie mit einem Schritt zurück in sein Zelt zu sich herein, wo sie vor den Blicken des übrigen Lagers sicher war.

Sie kam, einem über eine Landspitze hereinbrechenden Unwetter gleich, in sein Zelt gerauscht und hielt direkt auf ihn zu. Nicht ahnend, was nicht stimmte oder was säe vorhatte, wich er, so weit es ging, zurück. Doch dann warf sie sich mit einem Schluchzer von solch nackter Verzweiflung vor seinen Füßen auf den Boden, dass er um ein Haar eingestimmt hätte, und schlang ihm, in der Hand ein Stück Stoff, die Arme um die Beine. Richard sah sofort, dass es Kahlans weißes Konfessorinnenkleid war. »Oh, Richard, es tut mir so Leid«, weinte sie, immer wieder geschüttelt von heftigem Schluchzen. »Es tut mir so unendlich Leid, was ich dir angetan habe. So Leid, so unendlich Leid«, murmelte sie in einem fort. Sachte berührte er sie an der Schulter. »Nicci, was ist denn nur passiert?«

»Es tut mir so Leid«, wimmerte sie und klammerte sich an seine Beine wie eine Verdammte, die ihren König um Gnade anfleht. »Bei den Gütigen Seelen, es tut mir so schrecklich Leid, was ich dir angetan habe.«

Er ließ sich auf die Knie herunter und befreite seine Beine behutsam aus ihrer Umklammerung. »Was ist denn nur los, Nicci?«

Ihre Schultern hoben und senkten sich, immer wieder geschüttelt von heftigem Schluchzen. Dann endlich, als er sie an den Armen hochzog, sah sie zu ihm auf. Sie hing in seinen Armen, schlaff wie eine Tote.

»Oh, Richard, es tut mir so Leid. Ich habe dir keinen Moment geglaubt, ich bin untröstlich, dass ich dir nie Glauben geschenkt habe. Ich hätte dir helfen sollen, stattdessen habe ich dich immer nur behindert. Es tut mir so unendlich Leid.«

Selten hatte er jemanden im Zustand so abgrundtiefer Verzweiflung gesehen. »Nicci...«

»Bitte«, schluchzte sie. »Bitte, Richard, mach ein Ende, jetzt gleich.«

»Was?«

»Ich möchte nicht mehr weiterleben, der Schmerz ist zu gewaltig. Bitte, nimm dein Messer und mach ein Ende. Bitte. Es tut mir so Leid. Was ich getan habe, war schlimmer, als dir einfach nicht zu glauben. Ich war es, die dich ständig, bei jeder Gelegenheit, behindert hat.«

Schlaff wie eine Lumpenpuppe hing sie in seinen Armen und weinte Tränen tiefster Hoffnungslosigkeit und endgültigen Versagens.

Sie war so aufgelöst, dass sie seinen Armen zu entgleiten drohte, doch dann zog er sie, auf dem Boden sitzend, zu sich heran – ganz ähnlich, wie er auch schon Jillian in die Arme genommen hatte. »Nicci, Ihr wart die Einzige, die mich immer wieder ermuntert hat, nicht aufzugeben, als ich schon drauf und dran war, alles hinzuwerfen. Ihr allein habt mich dazu gebracht, den Kampf nicht aufzugeben.«

Doch sie schluchzte nur und murmelte in einem fort, wie Leid es ihr tue und dass sie ihm hätte glauben sollen und es jetzt zu spät sei und sie nur noch wolle, dass die Schmerzen ein Ende hätten und sie stürbe. Richard zog ihren Kopf an seine Schulter und sprach ihr mit leiser Stimme Trost zu, wiegte sie sacht hin und her und beruhigte sie, ohne große Worte zu machen, nur durch sein Mitgefühl. In diesem Moment spürte, ja wusste er, dass sie in ihrem ganzen Leben noch keinen Menschen gehabt hatte, in dessen Armen sie sich hatte ausweinen können. In seinen Armen erfuhr sie zum ersten Mal den ungebrochenen Trost, den sie mehr als alles andere brauchte, sodass sie sich, geborgen wie vielleicht noch nie zuvor in ihrem Leben, völlig verausgabte und schließlich sanft einschlummerte. Das Gefühl, ihr diese seltene Geborgenheit geben zu können, erfüllte ihn mit großer Freude ... Er musste kurz eingenickt sein, denn als er die Augen aufschlug, drang bereits ein fahler Lichtschein durch die dünne Außenhaut des Sommerzelts. Als er den Kopf hob, rührte sich Nicci in seinen Armen wie ein Kind, das sich, beseelt vom Wunsch, nicht aufzuwachen, enger an einen schmiegt. Schließlich aber merkte sie, wo sie war, und tat es doch – ganz abrupt. Sie schaute hoch und betrachtete ihn aus ihren müde wirkenden blauen Augen. »Richard«, hauchte sie mit einer Stimme, die ihm sagte, dass sie wieder von vorn anfangen würde. Um sie erst gar nicht zu Wort kommen zu lassen, legte er ihr einen Finger auf die Lippen.

»Es gibt eine Reihe von Dingen, um die wir uns kümmern müssen. Sagt mir, was Ihr herausgefunden habt, damit wir augenblicklich weitermachen können.«

Sie legte ihm das weiße Kleid in die Hände. »Du hattest in fast jeder Hinsicht Recht, auch wenn dir die Zusammenhänge nicht klar waren. Schwester Ulicia und ihre kleine Schwesternschar wollten sich tatsächlich die Freiheit von dem Traumwandler erkaufen, genau wie du gesagt hast – also beschlossen sie, weil du das Leben über alles schätzt, dir Unsterblichkeit zu gewähren. Was immer sie sonst noch getan haben und wie zerstörerisch es auch gewesen sein mag, es war für sie zweitrangig, denn dadurch erlangten sie die nötige Freiheit, um die Befreiung des Hüters zu betreiben.«

Je länger er ihr zuhörte, desto ungläubiger weiteten sich seine Augen. »Schließlich entdeckten sie das Geheimnis der Feuerkette und bedienten sich seiner, um Kahlan aus dem allgemeinen Bewusstsein zu löschen und so die Kästchen der Ordnung stehlen zu können. Nachdem dein Vater dem Hüter in der Unterwelt verraten hatte, dass du ebenjene Schrift auswendig gelernt hattest, die sie dringend brauchten, wussten sie, dass sie nur mithilfe einer Konfessorin in den Besitz der Wahrheit gelangen konnten. Kahlan war ihnen in zweifacher Hinsicht nützlich: Sie sollte die Kästchen der Ordnung stehlen und ihnen helfen, den wortgetreuen Inhalt jenes Buches zu erfahren, dass du damals auswendig gelernt hattest. Demzufolge ist das Phänomen der Feuerkette – und nicht der Prophezeiungswurm! – schuld daran, was derzeit mit den Prophezeiungen geschieht.