Die Männer gelobten zu tun, wie ihnen geheißen. Im Vorübergehen berührte einer der Männer kurz Richards Schulter – eine tröstliche und Mut zusprechende Geste. Richard erinnerte sich nur vage an das Gesicht, er hatte diese Männer eine Weile nicht gesehen. Der Gedanke schoss ihm durch den Kopf, dass dies wohl kaum die rechte Art war, ein Wiedersehen zu begehen. Dann zogen die Männer die Tür hinter sich zu.
»Nicci«, tuschelte Cara mit gesenkter Stimme. »Ihr könnt ihn doch heilen?«
Richard war zu einem Treffen mit Nicci unterwegs gewesen, als eine Gruppe von Soldaten – entsandt, um den Aufstand gegen die brutale Herrschaft der Imperialen Ordnung niederzuwerfen – zufällig auf sein verstecktes Lager stieß. Der erste Gedanke, der ihm, unmittelbar bevor die Soldaten über ihn stolperten, durch den Kopf schoss, war, dass er unbedingt Nicci finden musste. Jetzt erhellte ein erster Hoffnungsschimmer das Dunkel seiner brennenden Sorge. Nicci würde ihm gewiss helfen können. Er musste sie nur dazu kriegen, ihn anzuhören.
Als sie sich über ihn beugte und ihre Hand dabei unter ihn schob, offenbar um festzustellen, wie dicht der Pfeil davor war, an seinem Rücken wieder auszutreten, konnte Richard ihr schwarzes Kleid an der Schulter packen und sah, dass seine Hand vor Blut glänzte. Bei jedem Husten spürte er, wie weiteres Blut über sein Gesicht rann. Ihre blauen Augen wandten sich ihm zu. »Alles wird wieder gut, Richard. Lieg still.« Eine blonde Haarsträhne fiel über ihre Schulter nach vorn, als er versuchte, sie näher zu sich herabzuziehen. »Ich bin ja da. Beruhige dich. Ich lasse dich nicht im Stich. Lieg still. Es ist alles in Ordnung; ich werde dir helfen.«
So geschickt sie es auch zu überspielen suchte, in ihrer Stimme lauerte Panik. Trotz ihres begütigenden Lächelns glitzerten Tränen in ihren Augen. In diesem Moment kam ihm zum ersten Mal der Gedanke, ihre Heilkräfte könnten mit seiner Verletzung überfordert sein.
Umso wichtiger war es, dass er sie dazu bewog, ihn endlich anzuhören. Richard öffnete den Mund und versuchte zu sprechen, schien aber nicht genug Luft zu bekommen. Er bibberte vor Kälte, und jeder Atemzug glich einem Kampf, der wenig mehr als ein feuchtes Rasseln hervorbrachte. Er konnte doch nicht sterben, nicht hier, nicht jetzt! Tränen stachen ihm in den Augen. Sachte drückte Nicci ihn wieder zurück.
»Lord Rahl«, beschwor ihn Cara, »liegt still. Bitte.« Sie löste seine in Niccis Kleid verkrallte Hand und presste sie mit festem Griff an ihren Körper. »Nicci wird sich um Euch kümmern. Bald geht es Euch wieder gut. Liegt einfach still und lasst sie tun, was sie tun muss, um Euch wieder gesund zu machen.«
Während Niccis blondes Haar ihr lose über die Schultern fiel, hatte Cara das ihre zu einem einzigen Zopf geflochten. Er wusste, dass sie zutiefst besorgt war, trotzdem vermochte er in Caras Körperhaltung nichts anderes zu sehen als ihre starke Anwesenheit und in ihren Gesichtszügen und den blauen Augen ihre Willenskraft. In diesem Augenblick, gefangen in panischer Angst, gab ihm diese Stärke, dieses Selbstvertrauen, ein Stück festen Boden unter den Füßen.
»Der Pfeil ist nicht am Rücken wieder ausgetreten«, erklärte Nicci an Cara gewandt, als sie ihre Hand wieder unter seinem Rücken hervorzog. »Allerdings handelt es sich um einen Armbrustbolzen. Würde er an seinem Rücken herausragen oder so tief sitzen, dass ein kleiner Stoß genügte, um ihn ganz durchzustoßen, könnten wir die mit Widerhaken versehene Spitze abbrechen und den Schaft einfach herausziehen.«
Sie verschwieg, was sie jetzt stattdessen würden tun müssen.
»Er blutet nicht mehr so stark«, bemerkte Cara. »Wenigstens haben wir die Blutung gestillt.«
»Äußerlich vielleicht«, vertraute ihr Nicci mit leiser Stimme an. »Aber sein Brustraum füllt sich noch immer mit Blut – es steht kurz davor, in seinen linken Lungenflügel einzudringen.«
Diesmal war es Cara, die ihre Hand in Niccis Kleid verkrallte. »Aber Ihr werdet doch etwas dagegen tun? Ihr müsst...«
Mit einem geknurrten »Selbstverständlich« befreite Nicci ihre Schulter aus ihrem Klammergriff. Richard ächzte vor Schmerzen. Die immer höher steigende Woge aus Panik schien über ihm zusammenzuschlagen.
Um ihn ruhig zu halten und ihm Trost zu spenden, legte Nicci ihm ihre andere Hand auf die Brust. »Cara«, sagte sie, »warum wartet Ihr nicht draußen, bei den anderen?«
»Kommt überhaupt nicht infrage. Am besten lasst Ihr Euch einfach nicht stören.«
Nicci sah ihr kurz abschätzend in die Augen, dann beugte sie sich vor und schloss ihre Finger erneut um den aus Richards Brust ragenden Bolzenschaft. Der Verletzte spürte das tastende Kribbeln der Magie, die dem Kanal des Pfeils bis in die Tiefen seines Körpers folgte, und erkannte das unverwechselbare Gefühl von Niccis Kraft, ganz so, wie er zuvor auch ihre unverwechselbare seidenweiche Stimme wieder erkannt hatte.
Jetzt war keine Zeit mehr hinauszuzögern, was er tun musste, so viel wusste er. Hatte sie erst einmal angefangen, konnte niemand mehr sagen, wie lange es dauern würde, bis er das Bewusstsein wiedererlangte ... wenn überhaupt.
Richard nahm seine ganze Kraft zusammen, ließ seine Hand vorschnellen und bekam ihr Kleid am Kragen zu fassen. Dann zog er sich bis dicht vor ihr Gesicht, zog sie zu sich herunter, damit sie ihn hören konnte. Das Einzige, was er hervorbrachte, war dieses eine Wort. »Kahlan«, hauchte er mit letzter Kraft. »Schon gut, Richard. Ist ja gut.« Sie strich sich das Haar aus dem Gesicht und legte ihm fürsorglich behutsam eine Hand auf die Stirn, während sie mit der anderen erneut den vermaledeiten Bolzenschaft umfasste. Verzweifelt mühte sich Richard, ein »Nein« hervorzustoßen, mühte sich, den beiden zu erklären, dass sie Kahlan suchen müssten, doch dann wurde das Kribbeln der Magie heftiger und ging über in einen lähmenden Schmerz. Er war bereits einmal von Nicci geheilt worden, daher wusste er, wie sich ihre Kraft anfühlte. Aber irgendwas war diesmal anders –gefährlich anders.
Cara stöhnte auf. »Was tut Ihr da!«
»Was ich tun muss, wenn ich ihn retten will. Eine andere Möglichkeit gibt es nicht.«
»Aber Ihr könnt doch nicht...«
»Wenn Ihr ihn lieber den wartenden Armen des Todes überlassen wollt, braucht Ihr es nur zu sagen. Andernfalls lasst mich tun, was ich tun muss, damit er uns erhalten bleibt.«
Einen kurzen Moment lang musterte Cara Niccis erhitztes Gesicht, dann schnaubte sie geräuschvoll und nickte. Richard versuchte, nach Niccis Handgelenk zu greifen, doch zuvor bekam Cara seines zu fassen und drückte es auf den Tisch zurück, sodass seine Finger nun auf dem Heft seines Schwertes und dem dort aus Golddraht gebildeten Wort WAHRHEIT lagen. Noch einmal hauchte er Kahlans Namen, doch diesmal drang kein Laut über seine Lippen. Cara, die Stirn fragend in Falten gelegt, beugte sich zu Nicci. »Habt Ihr verstanden, was er da gerade gesagt hat?«
»Ich weiß nicht, irgendein Name. Kahlan, glaube ich.«
Richard versuchte, »Ja« zu schreien, doch heraus kam nur ein heiseres Stöhnen. »Kahlan?«, fragte Cara. »Wer soll das denn sein?«
»Ich habe keine Ahnung«, murmelte Nicci, während sie ihre Konzentration wieder auf die anstehende Aufgabe richtete. »Offenbar ist er wegen des hohen Blutverlusts ins Delirium gefallen.«
Der Schmerz, der plötzlich durch seinen Körper jagte, nahm ihm endgültig jede Möglichkeit zu atmen. Wieder blitzte und donnerte es draußen krachend, und diesmal setzte kurz darauf ein gewaltiger Regenguss ein, der auf das Dach zu trommeln begann.
Ein einziges Mal noch vermochte Richard Kahlans Namen zu flüstern, dann ließ Nicci ihre Magie in einer wahren Flut in ihn hineinströmen.
Die Welt löste sich auf in ein unermessliches Nichts.
2
Das ferne Geheul eines einsamen Wolfes weckte Richard aus einem todesähnlichen Schlaf. Ein verlorenes Echo hallte durch das Gebirge, ehe es unerwidert verklang. Im unwirklichen Licht der trügerischen Dämmerung lag er auf der Seite und lauschte schläfrig und abwartend auf einen Antwortruf, der jedoch blieb aus. Sosehr er sich auch bemühte, er schien die Augen nicht länger als für die Dauer eines einzigen trägen Herzschlags offen halten, geschweige denn genug Energie aufbieten zu können, um den Kopf zu heben. Schattenhafte Zweige schienen sich im trüben Dunkel hin und her zu wiegen. Merkwürdig, dass ein so alltägliches Geräusch wie das ferne Heulen eines Wolfes ihn hatte wecken können.